Alljährlich zu dieser Jahreszeit fasten die Baha'i 19 Tage, indem sie zwischen Sonnenauf- und untergang weder essen noch trinken. Warum?
In den Baha'i-Schriften heißt es:
Für das Fasten gibt es viele Stufen und zahllose Wirkungen und Segnungen sind darin verborgen. Wohl dem, der sie erlangt.
Baha'u'llah, in: Textzusammenstellung, Die Bedeutung von Pflichtgebet und Fasten
Wie in so vielen spirituellen Zusammenhängen sind auch hier Segnung und Zweck zwar miteinander verbunden, dennoch voneinander verschieden. Wenn ich einer alten Dame beim Einkaufen helfe, werde ich zweifellos spirituellen Segen anziehen, aber hoffentlich ist das nicht mein Grund, ihr zu helfen. Ich helfe ihr um ihretwillen, nicht meinetwegen. Die Segnungen, die ich dafür bekomme, sind ein schöner Nebeneffekt, aber nicht der Hauptzweck.
Meiner Ansicht nach trifft das Gleiche auf das Fasten zu. Es stimmt zwar, dass wir körperlich und spirituell vom Fasten profitieren, aber im Kern ist es etwas, das wir für Gott tun. Baha'u'llah, der Stifter der Baha'i-Religion, forderte seine Anhänger auf:
Fastet um eures Herrn willen, des Mächtigen, des Höchsten. Zügelt euch von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. So lehrt euch der Geliebte der Menschheit, wie von Gott, dem Allmächtigen, dem Ungehinderten geheißen. ... Wohl dem, der Meine Gebote befolgt aus Liebe zu Meiner Schönheit ...
Baha'u'llah, a. a. O.
Aber warum sollten wir etwas für Gott tun? Als Ausdruck unserer Liebe zu Gott:
Das Befolgen von Gottes Geboten entspringt der Liebe zur Schönheit des Meistgeliebten.
Abdu'l-Baha, a. a. O.
Demnach fasten die Gläubigen idealerweise, weil Gott sie dazu aufgefordert hat und nicht zu ihrem eigenen Nutzen. Fasten und Gebet stellen also eigentlich einen Akt der Hingabe dar, in dem der Liebende den Wunsch des Geliebten erfüllt.
Wenn der Sucher in das Meer der Liebe Gottes taucht, wird ihn starkes Verlangen ergreifen, und er wird sich erheben, um die Gesetze Gottes zu befolgen.
Abdu'l-Baha, a. a. O.
In einer Haltung wahrer Hingabe denkt man nicht an sich selbst, sondern nur an den Geliebten. Daher fasten die Baha'i nicht um der persönlichen Vorteile willen - obwohl es deren viele gibt, sondern wir fasten aus Liebe zu Gott. Natürlich empfangen wir dadurch spirituelle Wohltaten, wie immer, wenn wir etwas aus Hingabe für unseren Schöpfer tun, aber dieses Empfangen ist nicht der Grund, weshalb wir es tun.
Wenn unsere leeren Mägen und ausgetrockneten Münder in der Fastenzeit gefüttert werden wollen, fragen wir uns vielleicht „Was soll mir das bringen?“. Die schlichte Antwort lautet: „Nichts.“ Jedenfalls keine der landläufig angenommenen Vorteile, sondern etwas ganz anderes: Hingebungsvoll Liebende versuchen nicht, etwas für sich selbst zu bekommen; sie versuchen, Gott ihre Liebe zu beweisen.
Der wahre Liebende empfindet es als Gnade, wenn der Geliebte ihn um etwas bittet - und diese Gnade ist selbst die Belohnung. In gewisser Hinsicht stellt sich nicht einmal die Frage nach dem Warum oder den Vorteilen, die diese Wunscherfüllung mit sich bringen würde. Wer in Liebe zu Gott entflammt ist, sehnt sich nach nichts anderem als danach, sich seinem Gebot in Liebe zu ergeben.
Vielleicht gehört es zum modernen Denken, immer zu fragen „Was springt dabei für mich heraus?“ Oder ist das einfach die menschliche Natur? Wie auch immer, wenn es um einen Akt reiner Hingabe geht, können wir diese Frage eigentlich nicht stellen. Natürlich wissen wir von den Vorteilen, die das Fasten mit sich bringt. Sowohl die Baha'i-Lehren als auch die moderne Wissenschaft erklären sie uns. Aber das ist nicht der Hauptgrund zum Fasten. Wir fasten, weil wir Gott lieben und er uns dazu aufgefordert hat.
Diese liebende Dienstbarkeit sollte jedoch nicht blind sein, besonders nicht, wenn es um das Fasten geht. Baha'u'llah hat uns ermahnt, auf unsere Gesundheit zu achten und mit dem Fasten aufzuhören, wenn wir krank sind, reisen oder Schwerarbeit leisten.
Das Gesetz des Fastens ist denen bestimmt, die gesund und kräftig sind. Für den, der krank ist oder schwach, galt diese Pflicht zu keiner Zeit noch gilt sie heute.
Baha'u'llah, a. a. O.
Diese Bestimmung in den Baha'i-Schriften schützt vor blindem Gehorsam und zeigt, dass liebender Gehorsam und blinder Gehorsam nicht das Gleiche sind. Wenn wir uns Gott aus Liebe hingeben, bewahren wir unsere Vernunft.
Zum Bewahren unserer Vernunft gehört, dass wir den Grund für unser Tun verstehen. Natürlich ist es wichtig zu verstehen, warum Gott möchte, dass wir fasten:
... Fasten ist das beste Mittel und die größte Heilung für die Krankheit des Selbstes und der Leidenschaft.
Baha'u'llah, a. a. O.
Durch das Fasten lernen wir, unsere Triebe zu kontrollieren und erlauben dadurch unserer Spiritualität, sich zu entfalten. Allerdings ist das Beherzigen von Gottes Ratschlägen nicht abhängig davon, sie zu verstehen. Das Verständnis vertieft sich durch die Handlung selbst.
Das Fasten wird nicht einfacher dadurch, dass man es als einen Akt der Hingabe betrachtet. Liebende Ergebenheit vollzieht sich nicht mühelos. Sie erfordert große Ausdauer und Willensstärke, besonders beim Baha'i-Fasten. Etwas so Lebenswichtiges aufzugeben - Essen und Trinken - macht es zum Opfer. Im übertragenen Sinne verzichten wir auf Speise und Trank, um sie Gott als Zeichen unserer Liebe zu schenken:
... das leibliche Fasten ist ein Symbol für das geistige Fasten. Dieses Fasten führt dazu, die Seele von allen selbstischen Wünschen zu reinigen, geistige Eigenschaften zu erwerben, sich zu den Brisen des Allbarmherzigen hingezogen zu fühlen und vom Feuer der göttlichen Liebe entzündet zu werden.
Abdu'l-Baha, a. a. O.
Peter Gyulay ist leidenschaftlich engagiert für nachhaltiges Leben und die tieferen Aspekte des Lebens. Er hat einen Bachelor of Arts (mit Auszeichnung) in Philosophie sowie einen Master of Education und arbeitet in den Bereichen Bildung und philosophische Beratung. Er ist der Autor von "Walking the Mystical Path with Practical Feet: The Bahai Approach to Spiritual Transformation" sowie anderen Büchern und Artikeln. Mehr von Peter findet ihr hier: https://www.thinktalktransform.com/ und https://www.petergexpressions.com/
Dieser Artikel erschien im Original auf bahaiteachings.org und wurde von der Redaktion leicht editiert.
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