Zur Entspannung und zum Zeitvertreib schaue ich mir gerne alte Kriminalfilme an, in denen immer zu Beginn ein Mord geschieht.
Ehe die verwickelte Geschichte schließlich aufgedeckt wird, fragt der beharrliche Chefinspektor immer wieder zahlreiche Zeugen: „Hatte das Mordopfer irgendwelche Feinde?“ Die Antwort lautet unweigerlich: „Nein, natürlich nicht“, woraufhin der Detektiv schmunzelnd sagt: „Nun, es gab mindestens einen.“
Da ist dieses Wort „Feind“. Was bedeutet das? Ist es möglich, keine Feinde zu haben, oder ist das eine TV-Fantasie? Hier ist eine Aussage aus den Baha'i-Schriften zu diesem Thema:
So wie Gott alle liebt und freundlich zu allen ist, müssen auch wir wahrhaft alle lieben und freundlich zu allen sein. Wir dürfen niemanden als böse, verabscheuungswürdig oder als Feind betrachten. Wir müssen alle lieben – nein, wir müssen jeden als Verwandten ansehen, denn alle sind die Diener eines Gottes…
Ihr dürft überhaupt niemanden als Feind ansehen. Selbst wenn er euer Mörder wäre, seht in ihm keinen Feind. Schaut ihn mit dem Auge der Freundschaft an. Achtet darauf, dass ihr ihn nicht als Feind betrachtet und lediglich toleriert, denn das wäre nur ein Kunstgriff und Heuchelei.
Abdu'l-Baha, Promulgation of Universal Peace
Aber ist es tatsächlich möglich, niemanden als Feind zu sehen? Ist der Begriff „Feinde“ denn nicht das genaue Gegenteil von Freunden? Ist dieser Unterschied nicht so offensichtlich und selbstverständlich wie die Sonne? So selbstverständlich wie die Nase in deinem Gesicht?
So bin ich beispielsweise gerade auf ein Bilderbuch für Kleinkinder mit dem Titel „Held gegen Bösewicht: Ein Buch der Gegensätze“ von T. Nat Fuller aus dem Jahr 2018 gestoßen. Jede Seite zeigt eine zweigeteilte Illustration: auf der einen Seite eine kecke, braunhäutige Heldin mit einer roten Maske und einem wallenden gelben Umhang und auf der anderen Seite einen männlichen Bösewicht, grün mit Zylinder und einem riesigen, schnabelartigen Kiefer voller Krokodilzähne. Sechs Seiten in leuchtenden Farben sind wie folgt aufgebaut: Held vs. Schurke, Lächeln vs. Stirnrunzeln, oben in der Luft vs. unten in der Höhle, Bauen vs. Zerstören Wahrheit vs. Lüge und Feinde.
Auf der nächsten Seite bietet der Bösewicht dem Helden einen Muffin an und eine Seite weiter sehen wir das Wort „Freund“. Jetzt mal ehrlich – der Bösewicht ist ein stirnrunzelndes Wesen mit großen Zähnen und einem grünen Kopf, das zerstört und Lügen erzählt. Genügt da ein Muffin? Wohl kaum. Stattdessen lehrt dieses Buch Kleinkinder, dass die Welt in zwei Bereiche geteilt ist, wobei der eine Teil aus Feinden besteht, die sich verändern müssen. Viele Menschen denken das.
Das Wörterbuch definiert Feindschaft als eine „Haltung einem anderen Menschen gegenüber, die von dem Wunsch bestimmt ist, diesem zu schaden, ihn zu bekämpfen oder sogar zu vernichten.“ Ein militärischer Gegner und eine feindliche Einheit oder Kraft werden als Feinde bezeichnet.
Ok, eine feindliche militärische Macht – wie die Ukraine gegen Russland. Ist dies nicht der Punkt, an dem man das Feindbild nicht mehr leugnen kann? Ist das nicht der Moment, in dem ich meinen Feind klar „sehen" muss? Nun, ich weiß es nicht. Vielleicht ist es nicht so einfach. Hierzu eine Quizfrage: Welcher US-Präsident machte die folgende Aussage und worauf bezog er sich dabei?
... [Diese Nation] strebt nach der ausschließlichen Herrschaft über die [Welt], ist in Korruption versunken, von tief verwurzeltem Hass gegen uns erfüllt, der Freiheit feindlich gesinnt, wo immer sie ihr Haupt zu zeigen versucht, und der ewige Störenfried des Friedens in der Welt.
Die Aussage stammt von Thomas Jefferson aus dem Jahr 1815, als er bereits nicht mehr im Amt war. Er bezog sich auf Großbritannien. Gut, dass zu dieser Zeit noch keiner Atombomben hatte.
Kehren wir noch einmal zu dem obigen Zitat „Ihr dürft überhaupt niemanden als Feind ansehen …“ aus den Baha'i-Schriften zurück. Abdu'l-Baha lehrt hier nicht, dass es keine bösen Dinge gebe. Es gibt Mord, sogar im idyllischen englischen Hinterland. Stattdessen sagt er, dass wir, egal was passiert, andere nicht als Feinde bezeichnen sollten. Vielmehr sollten wir eine Perspektive der Gegenseitigkeit einnehmen und den anderen „mit dem Auge der Freundschaft anschauen“. Er möchte, dass wir zwischen der bösen Tat und dem Täter unterscheiden – und übrigens sagt er, dass man sich nicht verstellen darf. Er nennt das ein „Strategem“ oder mit anderen Worten, einen scheinheiligen Schwindel.
Der Baha'i-Glaube plädiert für eine Änderung der Einstellung, denn – man höre und staune – unsere innere Einstellung ist die Hauptursache für Gewalt, einschließlich Mord und Krieg. Menschliche Vorurteile, Hass, Schuldzuweisungen, Überlegenheits- und Anspruchsdenken und vor allem die negativen Zuschreibungen und Klischees, die auf „den Anderen“ übertragen werden, schaffen „Feindbilder“ wie im Kinderbuch dargestellt.
Ich habe mich oft gefragt, wie es wäre, wenn eines schönen Tages – sagen wir zum Beispiel morgen, und sagen wir in Russland und in der Ukraine – alle Soldaten ihre Feindbilder über Nacht ablegen würden. Am Morgen sind sie dann nicht mehr in der Lage, die Menschen, die sie töten sollten, als böse Bedrohung zu sehen, sondern lediglich als andersartig. Sie erkennen, dass Krieg unsinnig ist und dass Gewalt und Hass den Gipfel der Dummheit darstellen. Sie legen alle ihre Waffen nieder und hören auf zu kämpfen. Der Krieg ist vorbei.
Das ist Gewaltlosigkeit – eine prinzipielle Weigerung, andere Menschen zu verletzen oder zu zerstören. Es ist die Weigerung, den anderen als „ein Ding mit großen Zähnen“ zu sehen, sondern als eine Person. Vielleicht auch als Gegner, der eine gewisse Erziehung, Mitgefühl, Verständnis oder Liebe braucht, aber dennoch als Person, ein Mitglied unserer menschlichen Familie.
Mahatma Gandhi war im Kampf für Gerechtigkeit in Südafrika und dann in der Kampagne für die Unabhängigkeit vom britischen Kolonialismus in Indien ein großes Vorbild für Gewaltlosigkeit. Er betonte, wie wichtig es sei, die Person von der Tat zu unterscheiden, indem er sagte:
Während eine gute Tat Beifall und eine böse Tat Missbilligung hervorrufen sollte, verdient derjenige, der die Tat begeht, ob gut oder böse, immer Respekt oder Mitleid... Hasse die Sünde und nicht den Sünder. ... Es ist durchaus richtig, einem System zu widerstehen und es anzugreifen, aber seinem Urheber zu widerstehen und ihn anzugreifen, ist gleichbedeutend mit Widerstand und Angriff gegen sich selbst. Denn wir sind alle mit demselben Pinsel bemalt und sind Kinder ein und desselben Schöpfers.
Martin Luther King Jr. hat, inspiriert von Gandhi, in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung eine äußerst wirksame Kampagne der Gewaltlosigkeit durchgeführt. Auch er betonte, dass wir keine Feinde haben sollten, sondern nur Gegner, denen man mit geistiger Kraft widerstehen müsse. Er sagte: „Es geht nicht um passiven Nicht-Widerstand gegen das Böse, es geht um aktiven gewaltfreien Widerstand gegen das Böse“, und er legte die Merkmale der Gewaltlosigkeit dar, darunter die Bereitschaft, Leiden zu akzeptieren, ohne zurückzuschlagen, und die Fähigkeit, ungerechte Handlungen von den Menschen zu unterscheiden, die sie verursachen. Er sagte:
Gewaltloser Widerstand ... vermeidet nicht nur äußere physische Gewalt, sondern auch psychische Gewalt. Der gewaltlose Widerstandskämpfer weigert sich nicht nur, seinen Gegner zu erschießen, sondern auch, ihn zu hassen. Im Zentrum der Gewaltlosigkeit steht das Prinzip der Liebe.
Die Baha'i-Lehren, die sowohl Gandhi als auch King vorausgingen, betonen ebenfalls das Prinzip der Liebe:
Liebe ist die wahre Ursache des Lebens, während Trennung Tod bringt. In der Welt der materiellen Schöpfung z. B. verdanken alle Dinge ihr gegenwärtiges Leben der Einheit. Die Urstoffe, aus denen das Holz, das Mineral oder der Stein bestehen, werden durch das Gesetz der Anziehung zusammengehalten. Hörte dieses Gesetz nur einen Augenblick lang auf zu wirken, so würden diese Elemente ihren Zusammenhalt verlieren, sie würden auseinanderfallen, und der Gegenstand in dieser besonderen Form würde nicht mehr bestehen. Das Gesetz der Anziehung hat gewisse Urstoffe in der Form dieser schönen Blume zusammengebracht; wird aber jene Anziehung aus diesem Mittelpunkt zurückgezogen, so wird die Blume zerfallen und ihr Bestand als Blume enden.
Abdu'l-Baha, Ansprachen in Paris
So verhält es sich auch mit der gesamten Menschheit. Das wunderbare Gesetz der Anziehung, Harmonie und Einheit, hält diese wunderbare Schöpfung zusammen.
Helden und Schurken sind der Stoff, aus dem große Geschichten gemacht sind. Was würde ich bloß ohne den TV-Inspector Barnaby tun? Aber im wirklichen Leben müssen wir aufhören, Konflikte zu verherrlichen, und unsere Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen. Wir alle tragen Feindbilder in uns. Wir alle haben Vorurteile, die uns daran hindern, zwischen schlechten Taten und schlechten Menschen zu unterscheiden.
Ich liebe ein Poster, das zum ersten „Tag der Erde“ im April 1970 (in USA eingeführter, heute weltweit begangener Umwelttag „Earth Day“) entworfen wurde mit dem Wort „Wir haben den Feind getroffen und er ist wir.“
Ja, unsere eigenen Feindbilder sind unsere größten Feinde.
Dr. Patricia O'Connor ist Kriminalpsychologin mit besonderem Interesse an Heilung und Spiritualität. Zu ihren Veröffentlichungen gehört „It's Not Your Fault: How Healing Relationships Change Your Brain and Can Help You Overcome a Painful Past“ (Baha'i Publishing 2004) und unter dem Pseudonym Patricia Romano McGraw „Seeking the Wisdom of the Heart: Reflections on Seven Stages of Spiritual Development“ (Baha'i Publishing 2007). Sie ist spezialisiert auf die Auswirkungen von Gewalt in zwischenmenschlichen Beziehungen, psychische und körperliche Gewalt gegen Kinder und Heilung von psychischen Traumata und sexualisierter Gewalt.
Dieser Artikel erschien im Original auf bahaiteachings.org und wurde von der Redaktion inhaltlich geringfügig angepasst.
Photo von Monstera Production