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  • AutorenbildThomas von Lutterotti

Das Ich und das Wir

Wie Gruppen ein-schließen und aus-schließen


Wer sind wir? Wer sollen wir sein? Solche Fragen bleiben im Laufe unserer lebenslangen Persönlichkeitsentwicklung wesentlich, selbst wenn wir sie nicht explizit stellen. Wie lerne ich mich kennen? Schaffe ich das allein oder brauche ich dazu auch den Spiegel meiner Mitmenschen? Schöpfe ich die Sicherheit für ein angenehmes, möglichst friedvolles Leben aus mir selbst, oder benötige ich dazu Gruppen von Gleichgesinnten?


Ihr seid die Früchte eines Baumes und die Blätter eines Zweiges

„Erkenne Dich selbst“. Diese Jahrtausende alte Aufforderung stand angeblich über dem Apollo-Tempel am Orakel in Delphi. Nur wenn wir üben, in unser Inneres zu schauen, finden wir die Ausgeglichenheit, die uns und den Menschen um uns guttut. Dort finden wir Antworten, die uns die äußere Welt mit ihrem Glanz und Glitzer, und auch mit ihrem Staub und Dunkel oft nicht geben kann.

Wie kann ich den Weg finden, die Werkzeuge nutzen, die Hinweise beachten, um eine solche Stärke in mir selbst aufzubauen, die mich eher zum Gebenden für andere werden lässt und weniger zum Nehmenden von anderen Einzelnen oder Gruppen?


Als Menschen sind wir bekanntlich soziale Wesen. So ist beides wichtig, der Einzelne und die Gruppe. Einerseits führen biologische Muster zu Schutz für den Einzelnen durch einen starken Verbund, andererseits kann die Stärkung des Individuums durch eine erfolgreiche Charakterbildung zu besserem Selbstschutz führen.


Möglicherweise kann man diesem Gedanken eine zeitliche Dimension in zwei Extremen beifügen: vor Jahrhunderttausenden konnte nur eine Gruppe unser Überleben garantieren, die stark genug für den Erhalt der eigenen kleinen Welt und gegen die bedrohliche Außenwelt war; heute sind wir längst so weit, dass wir die Außenwelt mehr und mehr als eine vertrauter gewordene Welt wahrnehmen, mit der wir vielfach gut zurechtkommen. Das Schutzbedürfnis vor unbekanntem Äußeren, Anderen, Fremden wird immer geringer. Die skizzierten uralten Verhaltensweisen sind aber als Relikte noch weit verbreitet und noch längst nicht ausgelöscht.


Sind wir schon ein großes WIR?

„Wir haben gewonnen“, sagen Fußballfans, obwohl sie den Spielrasen nie betreten haben.


„Ihr dürft nicht in unser Land oder nur unter bestimmten Bedingungen“, sagen Patrioten aller Länder, die noch stark vom Gedanken des Nationalstaates geprägt sind.


„Sie gehören nicht zu uns, weil sie Gottesdienste anders feiern, weil ihre Haut dunkler und ihre Sprache unverständlich ist“, sagen viele, die es besser zu wissen meinen und für die die Welt nur ihre eigene kleine Umgebung ist, die sie vorgeben schützen zu wollen.


Schutz wovor und vor wem? Ist alles, was nicht unser ist, gefährlich? Sind wir nicht schon längst weit genug herumgekommen, um gesehen zu haben, dass wir Menschen überall auf der Welt uns gleich verhalten, in Freude und Kummer, in Fürsorge zu Kindern und Bedürftigen, in Lebensgestaltung und Überwindung von Schwierigkeiten, in Fleiß, Arbeitseifer, Erfolg und Misserfolg, in Ausdauer und Hartnäckigkeit, in Gastfreundschaft und Offenheit? Sind wir nicht schon weit genug herumgekommen, um zu sehen, dass Grenzen auf der Landkarte oder in den Köpfen immer willkürlich gezogen werden und dass es im Grunde weit mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt, dass wir bereits ein großes WIR sind?


Je kleiner das „wir“, desto größer die Angst, könnte man sagen. Je kleiner die Welt, die wir um uns aufbauen, desto bedrückender und unheilvoller wird uns alles erscheinen, was unserer Meinung nach nicht dazugehört. Der Trugschluss besteht dann darin zu glauben, dass wir mit Gewalt und Härte dieses Äußere auf Kosten der Anderen von uns abhalten können, anstatt zu sehen, dass wir einfach nur an den althergebrachten Grenzen rütteln müssten, um die Welt des Nachbarn als Garten zu erkennen, in dem wir immer schon willkommen sind.


Ja, es gibt Unterschiede. Manche Gruppen halten sich streng an bestimmte Speiseregeln oder Kleiderordnungen, an Vorschriften über Familienleben und Rituale des Gottesdienstes. Es ist dann leicht zu sagen, wer dazu gehört und wer nicht, denn solche Regeln sind zwischen den Gruppen oft gegensätzlich. Kopfbedeckung im Kultgebäude, ja oder nein? Schwein, Rind und Schalentiere, ja oder nein? Ehepartner ausschließlich aus der eigenen Gemeinschaft, ja oder nein? Im besten Fall toleriert man die anderen, im schlimmsten Fall bekämpft man sie aufs Blut. Der „liebe Gott“, der alle Menschen unterschiedslos gleich liebt, hat vielleicht Mühe, die Unterschiede auseinanderzuhalten. Sie stammen nicht von ihm, wie die Gruppenmitglieder unnachgiebig zu wissen glauben, sondern von uns kleingeistigen Menschen.


Die Menschheit hat einen Grad der Reife erreicht

Die Vergangenheit zu kennen ist wichtig, um die Gegenwart besser zu verstehen. Ein zu enger Blick zurück in die Geschichte kann jedoch in zu starre Narrative führen, die einer zukunftsgewandten Öffnung entgegenstehen. Die Menschheit hat mittlerweile einen Grad der Reife erreicht, da weithin ein Bedürfnis und eine Erkenntnis darüber besteht, Grenzen nicht mehr aus-schließend sondern als Brücken und Tore zu denken.


Das Höchste Wesen spricht: Selig und glücklich ist, wer sich erhebt, dem Wohle aller Völker und Geschlechter der Erde zu dienen.
Baha'u'llah, Ährenlese

Je mehr wir uns mit bestimmten Gruppen identifizieren, desto mehr laufen wir Gefahr in Ausschließlichkeiten, in Exklusivitäten zu leben. Identitäten, eng empfundene zumal, sind so oft Ursachen für hasserfüllte Leidenschaften und große Verbrechen jeglicher Art, wie die Menschheitsgeschichte uns unbarmherzig vorführt. Grenzen und Mauern hingegen abzubauen, heißt inklusiv zu denken, unseren Nächsten wie uns selbst zu lieben, wie ein Jesuswort uns lehrt.


Wo immer ihr die Eigenschaften Gottes findet, liebt jenen Menschen, gleichviel, ob er zu eurer Familie oder zu einer anderen zählt. Ergießet das Licht der grenzenlosen Liebe über jedes menschliche Wesen, das ihr antrefft, mag es gleich eurem Lande, eurer Herkunft, eurer politischen Partei oder irgendeiner anderen Nation, Farbe oder politischen Richtung angehören. Der Himmel wird euch helfen, wenn ihr daran arbeitet, die zerstreuten Völker der Welt unter den Schatten des allmächtigen Zeltes der Einigkeit zu sammeln.
Abdu'l-Baha, Ansprachen in Paris

Die eigene Biografie – eine bunte Palette von Identitäten

„On Identity“ heißt ein schmales Büchlein von Amin Maalouf aus dem Jahr 1998, das französische Werk eines libanesischen Autors in englischer Übersetzung. Für den Autor sind Identitäten vorwiegend individuell und nicht gruppenspezifisch, wie er am eigenen Beispiel darlegt: er ist in Beirut geboren, entstammt einer alten Familie mit Ursprüngen im Süden der arabischen Welt, wächst mit arabisch als Muttersprache auf, ist mit seiner Familie Mitglied der Melchitischen, also Griechisch-Katholischen Religionsminderheit, lebt in Paris und hat neben der libanesischen auch die französische Staatsbürgerschaft. Wenn er versucht, sich bestimmten Gruppen als zugehörig zu definieren, dann ist er in einigen Fällen Mitglied einer Minderheit, etwa als christlicher Araber oder als libanesisch-französischer Doppelstaatsbürger, in anderen Fällen jedoch Mitglied einer komfortablen Mehrheit, etwa als Araber schlechthin oder als französischer Europäer. Seine Gruppenzugehörigkeit ist also ganz und gar nicht eindeutig, seine individuelle Identität hingegen schon, vermutlich ist sie unter acht Milliarden sogar einzigartig.


Jeder kann diese Übung bei sich selbst ausführen. Bei mir sähe sie folgendermaßen aus: geboren in Norditalien von Tiroler Eltern, Muttersprache deutsch, Kindheitssozialisierung italienisch, von der katholischen Kirche zur Baha’i-Glaubensgemeinschaft gewechselt, verheiratet in Berlin mit einer deutschen, Kinder mit italienisch-deutscher Doppelstaatsbürgerschaft, Schwiegerkinder mit türkischen bzw. kasachischen Wurzeln, Lebensmittelpunkt der ganzen Familie derzeit in Dubai. Meine „Identität“ ist also durchaus individuell und mag genauso einmalig sein, wie die der meisten Menschen auch. Als Gruppenmitglied mag ich da in der Minderheit und dort in der Mehrheit sein.


Einheit kann die ganze Welt erleuchten

Und jetzt können wir uns fragen: wie sehr brauchen wir eine mehr oder weniger strenge Gruppenzugehörigkeit, um uns sicher und wohl zu fühlen? Und wenn, ist es dann eine nationale, eine volksgemeinschaftliche, eine sprachliche, eine territoriale, eine der politischen Einstellung, der Hautfarbe oder der Religionsgemeinschaft?


Wenn wir uns unserer je eigenen bunten Identitätspalette bewusst sind, dann können wir uns gerne in unterschiedlichen Gruppen wohlfühlen, wir brauchen aber für unser Selbstverständnis, für unser Selbstbewusstsein keine spezifische, schon gar nicht eine ausschließliche Identität.


Denn „aus-schließlich“ ist sehr nahe an „aus-schließend“, und da sind wir wieder beim ach so kleinen „wir“, mit dem wir glauben uns von allem anderen ab-grenzen zu müssen. Schlimmer ist es noch, wenn Gruppenbildungen Fanatismus fördern und Gewaltbereitschaft zeigen, ob auf gesellschaftlicher oder auf staatlicher Ebene. Wenn wir ehrlich sind, können wir uns in der heutigen Welt gar nicht abgrenzen, und es wäre schön, wenn wir einsehen würden, dass wir das auch gar nicht mehr brauchen. „Inklusion“ heißt es neudeutsch, also Ein-schluss. Das ist gut für benachteiligte Minderheiten aller Art, für Verständigung über Verständnisgrenzen hinweg, für den Abbau von Vor-urteilen und Vor-eingenommenheiten, für die Verbreitung von friedlichen Lösungen bei Konflikten statt solchen mit roher Gewaltanwendung.


Sollte uns in unserem Selbstverständnis etwas fehlen, wenn wir uns nicht mehr voll und ganz einer Gruppe zuordnen, dann kommt die Stärke aus dem Bewusstsein unseres Weltbürgertums, denn wir gehören alle zu der einen Menschheitsfamilie, zu der einen Gruppe, wo das „wir“ am größten ist.


Ihr seid die Früchte eines Baumes und die Blätter eines Zweiges. Verkehret miteinander in größter Liebe und Eintracht, in Freundschaft und Brüderlichkeit. Er, die Sonne der Wahrheit, ist Mein Zeuge! So mächtig ist das Licht der Einheit, dass es die ganze Erde erleuchten kann.

 

Thomas von Lutterotti ist als Naturwissenschaftler seit jeher an philosophischen und theologischen Fragestellungen interessiert. Bei allen behandelten Themen ist ihm der transreligiöse Kontext immer ein großes Anliegen, weil vor allem daraus ein wechselseitiges Verständnis und die Orientierung aller auf die eine und einzige Gottheit erwachsen kann. Thomas hat Familie und lebt in Berlin und Dubai.


Photo von Bestbe Models auf Pexel


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