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AutorenbildIngo Hofmann

Immanuel Kant – Prophet der Vernunft? (1/2)


Teil 1: Die schwierige Beziehung zwischen Religion und Vernunft


Gibt es überhaupt so etwas wie einen „Vernunftpropheten“? Philosophen werden das ablehnen, Theologen vermutlich auch. Ein Naturwissenschaftler darf vieles anders sehen.


Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten

Sicher ist, dass anlässlich seines 300. Geburtstags (22. April 1724) viele, auch weltweit, des vermutlich beliebtesten deutschen Philosophen gedenken: Immanuel Kant. Es liegt gerade heute nahe, an seine Vision eines dauerhaften Friedens in einer „Weltrepublik“ zu erinnern. Diese möchte ich in einer zweiteiligen Betrachtung in Beziehung zur religiös begründeten Baha'i-Friedensvision setzen. (Teil 2 über Weltbürger und Weltrepublik demnächst).


Kant hat seine Heimatstadt Königsberg (damals Ostpreußen) zeitlebens nicht verlassen. Dennoch verfolgte er die Kriege seiner Zeit sehr aufmerksam und fand eine Lösung, die zu einem dauerhaften Frieden hätte führen können. Auf unsere von Kriegen so heimgesuchte Gegenwart wirkt seine Schrift „Zum ewigen Frieden“ möglicherweise herausfordernder, als jedes andere seiner viel umfänglicheren Werke. Bereits zu Beginn seines Jubiläumjahres schrieb ein Journalist den Artikel „Immanuel Kant, geboren vor 300 Jahren – und aktueller denn je“. Kants Schlussfolgerung, dass eine föderale Weltrepublik ebenso möglich wie notwendig sei, wird darin besonders hervorgehoben. Allein sie ermögliche ein Ende aller Kriege und einen immerwährenden Frieden (mehr dazu in Teil 2).


Die oft zitierte Weisheit „Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten“ mag als Beweggrund dafür verstanden werden, sich heute etwas näher auch mit Kant zu befassen.


Die neue Herrschaft der Vernunft

Vernunft und Wissenschaft haben seit der Aufklärung und der Industrialisierung den Weg für vieles bereitet, das lange Zeit für unmöglich gehalten wurde: Der Mensch hat längst den Mond betreten und bereitet sich auf den Mars vor, besiegt vormals als unbesiegbar angesehene Krankheiten und will sogar das menschliche Gehirn mit künstlicher Intelligenz überbieten. In Frieden leben zu können gilt aber immer noch als Illusion oder unerfüllbarer Traum.


Der Geist der europäischen Aufklärung war geprägt durch einen unerschütterlichen Glauben an Fortschritt und Vernunft. Nach Erkenntnis, Freiheit und Unabhängigkeit zu streben war das Ziel. In „Was ist Aufklärung“ schreibt Kant:


Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen … zeitlebens unmündig bleibt.

Die Vernunft sollte so zu einer universal herrschenden Kraft werden und dabei auch die Vorherrschaft der traditionellen Religion beenden. Kant war zwar kein Gegner von Religion schlechthin, lehnte aber vor allem die von ihm scharf kritisierte Macht der Kirche und Ihrer Repräsentanten ab.


Wer mit Kants Forderung nach Vorherrschaft der Vernunft hadert, dem sei „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793) empfohlen. In diesem damals heftig diskutierten, religionskritischen Werk spricht er einerseits von „Kirchenglauben“ (auch „historischer“ oder „statuarischer Glauben“ genannt). Dieser beruhe auf historischen Erzählungen und führe zu Machtmissbrauch, den er heftig verurteilte. Andererseits ist die Rede von „reinem Religionsglauben“, der nur auf Vernunft gründen soll, damit er sich universal „jedermann zur Ueberzeugung mittheilen“ lasse.


Und die Moral?

Für die Moralsetzung zentral ist bei Kant kein Gott, sondern sein berühmt gewordener „Kategorischer Imperativ“ als für alle Menschen gültiges Gesetz: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Da er überzeugt war, dass der freie Mensch sich selbst durch seine Vernunft an derartige „unbedingte Gesetze“ binden würde, bedarf es Kant zufolge dazu auch keines „andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen“.


Das Abendland erlebte im anschließenden 19. Jahrhundert eine bis dahin unbekannte Abwendung von Religion, die auch der Aufklärung zugeschrieben wird. Der als „Philosoph des Untergangs“ betitelte Friedrich Nietzsche (1844-1900) schrieb: „Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!“ Er meinte damit, dass die Menschen durch ihre materialistische Lebensführung und Geisteshaltung Gott „vernichtet“ hätten und es niemand bemerkte.


Im 20. Jahrhundert bestätigte sich im Nationalsozialismus und Stalinismus der völlige Zusammenbruch von Moral und Gesellschaft ohne Gott. Waren damit Freiheit, Erkenntnis und Fortschritt als Versprechen der Aufklärung endgültig gescheitert? Der Philosoph Max Horkheimer ist einer der Väter der „Dialektik der Aufklärung“, die zeigte, dass die Aufklärung nicht frei von Widersprüchen war. 1934 emigrierte Horkheimer aus Nazi-Deutschland in die USA und schrieb nach seiner Wandlung vom Marxisten zum Pessimisten über Logik und Vernunft:


Es gibt keine logisch zwingende Begründung dafür, warum ich nicht hassen soll, wenn ich mir dadurch im gesellschaftlichen Leben keine Nachteile zuziehe. Auch die Logik bleibt stumm, sie erkennt der moralischen Gesinnung keinen Vorrang zu. Alle Versuche, die Moral anstatt durch den Hinblick auf ein Jenseits auf irdische Klugheit zu begründen – selbst Kant hat dieser Neigung nicht immer widerstanden –, beruhen auf harmonistischen Illusionen. Alles, was mit Moral zusammenhängt, geht letzten Endes auf Theologie zurück.
Max Horkheimer: Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, Herausgeber. Furche-Verlag 1970, S. 60ff.

Die Hoffnung darauf, dass doch etwas Jenseitiges existieren könnte, kehrte indes vielfach zurück – nicht zuletzt in den Baha'i-Lehren. Mitte des 19. Jahrhunderts eröffneten sie ein neues Kapitel der Religion. Ihre Quelle lag ausgerechnet in Persien, bereits damals eines der fortschrittsfeindlichsten Länder der Welt. Diese Lehren halten die Vernunft hoch, zugleich aber auch einen jenseitigen Gott und warnen vor den Folgen von Religionslosigkeit.


Das notwendige Gleichgewicht

Gemäß den Baha'i-Schriften erfordert zivilisatorische Entwicklung ein Gleichgewicht zwischen Glauben und Vernunft:


Religion und Wissenschaft sind eng miteinander verflochten und können nicht getrennt werden. Sie sind die beiden Flügel, mit denen die Menschheit fliegen muss. Ein Flügel genügt nicht. Jede Religion, die sich nicht mit Wissenschaft befasst, ist bloße Tradition und geht am Wesentlichen vorbei.

Dabei bleibt Kants Forderung nach einer „reinen Religion“ der Vernunft sichtlich unerfüllt. Die Baha‛i-Schriften warnen hingegen davor, dass Religion keinesfalls auf Vernunft und Wissenschaft verzichten darf:

Stünde die Religion im Gegensatz zur logischen Vernunft, so würde sie aufhören, Religion zu sein und wäre lediglich Überlieferung.
Abdu'l-Baha, Ansprachen in Paris

Die bei Kant grundsätzliche Unvereinbarkeit von Glauben (er dachte hierbei meist an „Kirchenglauben“) und Vernunft wird durch die Forderung eines Gleichgewichts zwischen den beiden versöhnt. Gott bleibt ein jenseitiges Wesen über dem Menschen. Fortschritt und Zivilisation sind nach den Baha'i-Lehren aber für das Wohl der ganzen Menschheit unverzichtbar. Es gilt:


Ins Übermaß gesteigert, wird sich die Zivilisation als eine ebenso ergiebige Quelle des Übels erweisen, wie sie, in den Schranken der Mäßigung gehalten, eine Quelle des Guten war.
Baha'u'llah, Ährenlese

Fazit: Die mit der Aufklärung einsetzende Säkularisierung, also hier der Rückzug aus der Religion, zeigt weltweit Folgen: Die geistige, religiöse Natur des Menschen verliert laufend an Bedeutung gegenüber der überwiegend materiell orientierten Zivilisation. Die Menschheit kann sich offenbar nicht durch ausschließliches Verlassen auf Vernunft und Wissenschaft sowie durch materiellen Wohlstand am Leben erhalten. Sind wir im Sinne des obigen Zitats von Kant durch ein Zuviel an Vernunft wieder auf neue Art „unmündig“ geworden?


Demnächst widmet sich Teil 2 der Neuordnung der Welt, Stichwort Weltbürgertum, und einer föderalen Weltordnung, in der Gegenüberstellung von Kant und den Baha'i-Lehren.


 

Ingo Hofmann studierte Physik in München und war über drei Jahrzehnte im Raum Darmstadt-Frankfurt in der Forschung und als Hochschullehrer tätig. Er ist Vater von vier Kindern und lebt seit einigen Jahren in Potsdam, Brandenburg.


Photo von Wikimedia Commons, „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ (Caspar David Friedrich, um 1818)

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