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AutorenbildIngo Hofmann

Immanuel Kant – Prophet der Vernunft? (2/2)

Teil 2: Kant und die Baha'i-Sicht:

Weltbürger und Weltrepublik


Ob Kants Vision oder die Sicht der Baha'i: Die Welt scheint aktuell ganz auf Gegenkurs zum Weltfrieden zu steuern. Einsteins berühmt gewordenes WortWissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft blind" ist in unserem Jahrhundert erst recht von Bedeutung. Das gilt auch für die Philosophie, die Mutter aller Wissenschaften.


Die Erde ist nur ein Land, und alle Menschen sind seine Bürger

Kants Vertrauen in die Vernunft bereitete den Boden für seine diesseitsorientierte Vision: Nur mit Weltbürgern in einer föderalen Weltrepublik kann es ein Ende aller Kriege und einen dauerhaften Frieden geben! Diese Vision macht Kant für uns alle aktuell.


Bereits Sokrates soll auf die Frage nach seiner Heimat geantwortet haben: „die Welt“. In ihr war offenbar sein Geist als Weltbürger zu Hause, in Athen nur sein Körper. Philosophen haben das Recht, „prophetisch“ in die Zukunft zu blicken – Religionsstifter müssen das tun.


Kants Vision der Zukunft

Auch zu seinem Zeitalter gehörten blutige Kriege. Als Mittel dagegen entwickelte Kant in seinem „Ewigen Frieden“ (1795) die Vorstellung der „vollkommenen bürgerlichen Vereinigung der Menschengattung“ in einer föderalen Weltrepublik. Und dies nicht im Vertrauen auf das Gute im Menschen oder gar eine göttliche Vorsehung, sondern allein auf der Grundlage von Vernunft und Recht. Denn, so Kant, die Vernunft ist allen Menschen gemeinsam gegeben, während die – in seinen Worten „verkirchlichte“ – Religion den Interessen der jeweiligen Mächtigen entsprach.


Ein erster Schritt sollten für ihn Staatsbürgerrechte innerhalb eines Volkes sein. Damit sind für alle Bürger gültige Grundrechte gemeint, die oft auch als Menschenrechte bezeichnet werden. Solche Rechte gab es in Europa bis Mitte des 18. Jahrhunderts fast nirgendwo. In diese Richtung bewegten sich die aufstrebenden Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts mit ihren Verfassungen.


Streitigkeiten zwischen Staaten sollten im zweiten Schritt durch ein Völkerrecht zwischen den Staaten geregelt werden. Das gelang erst mit dem „Völkerbund“, der nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges 1920 gegründet wurde.


Im dritten Schritt sollte nach Kant ein „Weltbürgerrecht“ folgen, in dem alle „Bürger eines allgemeinen Menschenstaats“ sind. In ihm erst würde eine „oberste gesetzgebende, regierende und richtende Gewalt“ dafür sorgen, dass Konflikte gewaltlos gelöst werden können, indem diese sich freiwillig einer föderalen Weltrepublik anschließen. Das „Recht des Stärkeren“ würde dann endgültig durch ein vernunftbasiertes und damit universal gültiges Recht ersetzt werden. Ein faszinierender Gedanke!


Die Gründung der Vereinten Nationen (1945 als faktische Nachfolgeorganisation des Völkerbundes) mit ihrer „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ war immerhin der Auftakt für die Anerkennung der Rechte des Einzelnen jenseits nationaler Grenzen. Der Raum für Kants dritten Schritt war damit eröffnet, dabei blieb es aber vorerst auch.


Die Zeit war nicht reif dafür

Zu Kants Lebzeiten war die Welt natürlich alles andere als reif für weltumspannende Organisationsformen. Sein Ruf und der ähnlich Denkender wurde zwar beachtet, verhallte aber bald im Chaos der Französischen Revolution von 1789 und der darauffolgenden Rivalitäten neuer Nationalstaaten.


Das erlebte auch ein Zeitgenosse Kants, ein leidenschaftlicher Vorkämpfer der Idee des Weltbürgertums, namens Anacharsis Cloots (1755-1794). Er war Sohn eines preußischen Adeligen mit französischer Staatsbürgerschaft und in Paris stark in die Französische Revolution verwickelt. In seinem Werk „Die Republik des Menschengeschlechts“ (1793) verbindet Cloots die weltbürgerliche Idee mit der repräsentativen Demokratie, die bereits 1787 in Nordamerika erfolgreich war. Ihm zufolge sollte eine einzige souveräne Nation, getragen von einem Weltparlament, die ganze Erde umspannen.


Obwohl Mitglied der französischen Nationalversammlung, wurde ihm bald danach der herrschende Nationalismus zum Verhängnis. Als spionageverdächtiger Saboteur angeklagt erhielt er das Todesurteil. Noch auf der Guillotine soll er in alle Richtungen gerufen haben „Lang lebe die Weltrepublik“.


Und die Religion?

Ein halbes Jahrhundert später ging es auch dem ebenso romantischen wie ironisch-rebellischen Dichter Heinrich Heine um das Wohl auf Erden. In einem aufwiegelnden Gedicht schrieb er 1844: „… Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten … Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen“. Er starb 1856 im politischen Exil in Frankreich – von deutschen Nationalisten und Judenfeinden gehasst.


Auch Friedrich Nietzsche (1844-1900) genügte die traditionelle Vertröstung der Religionen auf ein besseres Leben im Jenseits nicht. Auf den „Philosoph des Untergangs“ war bereits Teil 1 dieser Artikelfolge eingegangen. Weitere Dichter und Philosophen seiner Epoche forderten ebenfalls einen Willen zu „Fortschritt auf Erden“. Diese Forderung war seit der Aufklärung und Industrialisierung mit wachsendem Nachdruck erhoben worden.


Nationalismus, Imperialismus und rasant zunehmende materialistische Denkweisen und Ideologien trieben indessen die zivilisatorische Entwicklung an. Die traditionellen Religionsvorstellungen passten sich diesem Trend an oder stemmten sich dagegen.


Die von Kant vorausgesetzte Verlässlichkeit der Vernunftethik wurde durch die weitere Ideologisierung mehr und mehr in Frage gestellt. Endgültig verlor sie ihre Glaubwürdigkeit mit der NS-Schreckensherrschaft und dem Stalinismus im 20. Jahrhundert.


Jetzt ist die Zeit reif

Aktuell geht die Welt scheinbar auf Gegenkurs zu Kants Vorstellungen einer Neuordnung: Erfolge im Kampf gegen den weltweiten Klimawandel verheddern sich in nationalen Eigeninteressen; globales Sicherheitsdenken und Friedensvorstellungen geraten unter die Räder der Geopolitik.


Das Publikum des unlängst Oskar-gekrönten Films „Robert Oppenheimer“ wurde jedoch daran erinnert, dass die Atombombe unsere Welt grundlegend verändert hat. Derzeit laut geäußerte atomare Drohungen brechen alle bisherigen Tabus der Zurückhaltung, die die Weltgemeinschaft sich nach dem Zweiten Weltkrieg auferlegt hatte. Auch dann, wenn nur von sogenannten „taktischen Atomwaffen“ die Rede ist; das klingt zwar etwas harmloser, aber diese Waffen sind alles andere als das. In einer Welt ständig wachsender Spannungen ist das atomare Waffenpotential gefährlicher denn je.


Kants Vision vom Weltfrieden in einer von Weltbürgern bewohnten „föderalen Weltrepublik“ erscheint damit in neuem Licht: Sie wandelt sich sich vom philosophischen Wunschtraum zur beachtenswerten Lösungsmöglichkeit.


Die Baha'i-Lehren sehen in der Errichtung des Weltfriedens eine unumgängliche Zukunftsaufgabe, die heute und zukünftig im Interesse der ganzen Menschheit liegt und realistisch erreichbar ist. Bereits kurz vor dem Zweiten Weltkrieg warnten Baha'i-Texte in deutlichen Worten davor, an souveränen, unantastbaren Nationalstaaten festzuhalten:


Der Aufbau von Nationalstaaten ist zu einem Ende gekommen. Die Anarchie, die der nationalstaatlichen Souveränität anhaftet, nähert sich heute einem Höhepunkt. Eine Welt, die zur Reife heranwächst, muss diesen Fetisch aufgeben, die Einheit und Ganzheit der menschlichen Beziehungen erkennen und ein für alle Mal den Apparat aufrichten, der diesen Leitgrundsatz ihres Daseins am besten zu verkörpern vermag.

Diese starke Diesseitsorientierung religiöser Lehren mag vielen ungewohnt erscheinen. Die Vorstellung einer diesseitigen Weltordnung ist auch ein Novum in der bisherigen Religionsgeschichte. Sie ist eine Antwort – in der Sprache der Aufklärung – auf die längst erforderliche Emanzipation der menschlichen Vernunft von einem überlieferten Kirchen-Religionsverständnis. Die Wahrheit kann nicht auf dem Wege von Tradition und Überlieferung gefunden werden, sie ist neben dem offenbarten Wort auf die Vernunft angewiesen.


Im oben zitierten Text heißt es weiter:

Die Einheit des Menschengeschlechts, wie sie Baha'u'llah vorausschaut, umschließt die Errichtung eines Weltgemeinwesens, in dem alle Nationen, Völker, Konfessionen und Klassen eng und dauerhaft vereint, die Autonomie seiner nationalstaatlichen Glieder sowie die persönliche Freiheit und Selbständigkeit der einzelnen Menschen, aus denen es gebildet ist, ausdrücklich und völlig gesichert sind.

Dabei soll nach den Baha'i-Lehren eine Gewaltenteilung mit Weltlegislative, Weltexekutive und Weltgerichtshof „die organische Einheit des ganzen Gemeinwesens sichern“. In der dabei entstehenden Weltgesellschaft werden „Wissenschaft und Religion, die beiden gewaltigsten Kräfte im menschlichen Leben, in Einklang gebracht sein“ (a. a. O.).


Fazit

Ein so konkretes Verständnis einer diesseitigen, die Menschheit als Ganzes erfassenden Weltordnung mag für eine Religion ungewohnt klingen. Als Baha'i gehen wir aber davon aus, dass der Mensch nicht allein materielle Bedürfnisse hat. Seine zentrale Aufgabe besteht darin, ein Gleichgewicht zwischen seiner geistigen Wesensart, die seine Vernunft einschließt, und seiner Körperlichkeit herzustellen und dauerhaft zu erhalten.


Die Vernunft ist also nicht gescheitert: Die Welt ist heute reifer denn je für Kants Vision eines Weltfriedens im Rahmen einer „föderalen Weltrepublik“ als Gebot der Vernunft! Hierzu muss das Gleichgewicht zwischen den beiden Flügeln des „Vogels Menschheit“, Glauben und Vernunft oder Religion und Wissenschaft, wiederhergestellt werden. Nur so kann Wirklichkeit werden, was Baha'u'llah, der Stifter der Baha'i-Religion, uns ins Bewusstsein ruft: „Die Erde ist nur ein Land, und alle Menschen sind seine Bürger“ (Ährenlese aus den Schriften Baha'u'llahs).


 

Ingo Hofmann studierte Physik in München und war über drei Jahrzehnte im Raum Darmstadt-Frankfurt in der Forschung und als Hochschullehrer tätig. Er ist Vater von vier Kindern und lebt seit einigen Jahren in Potsdam, Brandenburg.

Photo von Wikimedia Commons, „Böhmische Landschaft“ (Caspar David Friedrich, um 1808)

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