Die spirituelle und emotionale Kraft der Künste hat einen ganz besonderen Wert. Mir scheint, immer mehr Menschen wird bewusst, wie wichtig es ist, ihn zu nutzen.
Hast du das auch gespürt? In Musik, Tanz, Film, Literatur, Malerei, Bildhauerei und jeglicher anderer vorstellbarer Kunstform befinden wir uns mitten in einem Prozess des Wiedererwachens, einer neuen Ära der Erkenntnis und Inspiration.
Die Baha'i-Schriften setzen dieses Erwachen in Bezug zur Offenbarung Baha'u'llahs, des Stifters der Baha'i-Religion:
Obwohl Baha'i-Kunst heute erst im Entstehen ist, sollten doch Freunde, die eine solche Begabung haben, sie entwickeln und pflegen, um durch ihre Werke – wie unvollkommen auch immer – den göttlichen Geist widerzuspiegeln, den Baha'u'llah der Welt einhauchte.
Seit vielen Jahren warte ich darauf. Oft wurde ich enttäuscht, auch durch persönliche Rückschläge. Jetzt aber beginne ich endlich eine Veränderung des Bewusstseins zu spüren, eine größere Empfänglichkeit für die Rolle, die die Künste in diesem neuen Abschnitts der Menschheitsgeschichte spielen können.
Wie in allen Religionszeitaltern geschehen, wird auch die Baha'i-Religion neue Kunstformen hervorbringen; neue Wege, Kreativität mit dem Respekt vor dem menschlichen Leben und dem Göttlichen zu verschmelzen. Die Baha'i-Religion schreibt weder bestimmte Kunstformen vor noch verbietet sie sie. Sie ermutigt persönliche Kreativität, wie diese Textstelle beweist: „Die Gläubigen können malen, schreiben und komponieren, wie ihre Begabung es ihnen eingibt.“
Das garantiert natürlich nicht, dass andere unsere Kunst mögen, verstehen, nutzen oder fördern – es besagt lediglich, dass wir in der Wahl unseres kreativen Ausdrucks frei sind, egal ob auf Anfänger- oder Meisterebene. Die Geschichte hat gezeigt, dass der Blick von Kunstschaffenden oft neue Betrachtungsweisen vermittelte, die nicht sogleich akzeptiert wurden. Entsprechend müssen wir als Kreative mit einem widersprüchlichen Echo rechnen.
Das oberste, demokratisch gewählte Baha'i-Gremium erläuterte dazu:
Im Zuge der Entwicklung der Baha'i-Gesellschaft, die sich aus Menschen vieler kultureller Herkünfte und unterschiedlicher Geschmäcker zusammensetzt – von denen jeder seine eigenen Vorstellungen davon hat, was ästhetisch annehmbar und ansprechend ist – steht es den Baha'i, die in Musik, Schauspiel und bildender Kunst begabt sind, frei, ihre Talente in einer Weise auszuüben, die dem Glauben Gottes dient. Sie sollten sich nicht über die mangelnde Wertschätzung durch andere Gläubige bekümmert fühlen. Vielmehr sollten sie in Kenntnis der eindringlichen Schriften des Glaubens über Musik und künstlerischen Ausdruck ... ihre künstlerischen Bemühungen im Geiste des Gebets fortsetzen und dabei erkennen, dass die Künste mächtige Instrumente sind, um der Sache zu dienen – Künste, die mit der Zeit zur Blüte reifen werden.
(9. August 1983, im Auftrag des Universalen Hauses der Gerechtigkeit an eine einzelne Person, Abs. 53, Übersetzung der Redaktion)
Der Baha'i-Poet Roger White formulierte es in seinem offenen Brief „Advice From a Poet – 'Bring Chocolate'“ so:
„Künstler leiten uns weg von Formeln, warnen uns vor dem Falschen und gewöhnen uns an das Unvorhersehbare – jenes Element, das so charakteristisch ist für das Leben. Sie bestätigen die Stichhaltigkeit unserer Sinneswahrnehmungen. Sie verbinden uns mit unserer eigenen Geschichte. Sie umhüllen unsere Träume und Sehnsüchte und verleihen ihnen Ausdruck. Sie lehren uns Ungeduld mit dem Stillstand. Sie helfen uns, freundlich mit unseren eigenen Erfahrungen umzugehen und unsere unwillkürlichen Reaktionen auf die Welt achtsam zu hinterfragen. Sie sabotieren unsere Selbstgefälligkeit. Sie sensibilisieren uns für göttliche Hinweise. Die Kunst vermittelt uns Informationen über uns selbst und unser Universum, die nirgendwo sonst zu finden sind. Unsere Künstler sind unsere Wohltäter. Künstler stehen oft mit ihrer Welt auf Kriegsfuß und leben am Rand der Gesellschaft. Ihre heftig Kritik – die manchmal feindlich, beschimpfend, negativ und bar jeglicher Lösungsansätze wirken mag – kann dazu führen, dass sie zurückgewiesen und abgelehnt werden von eben jener Gesellschaft, die sie doch verbessern wollen. Künstler werden häufig als Unruhestifter, Bedrohung, Ordnungsstörer oder leichtfertige Clowns angesehen. Sie als neurotisch oder verrückt zu bezeichnen gilt manchmal noch als das Netteste, was über sie zu sagen sei. In der Baha'i-Gemeinde muss das anders sein! (...) In den Baha'i-Schriften heißt es*: 'Alle Künste sind ein Geschenk des Heiligen Geistes', und wir werden dazu ermahnt, diejenigen zu respektieren, die sich mit Wissenschaft, Kunst und Handwerk beschäftigen. Zur Verantwortung der Kunstschaffenden gehört, unsere Werte zu hinterfragen; uns zu neuen Einsichten zu führen und dadurch unser Wachstumspotential zu entfesseln; die Menschheit zu erleuchten; unsere Authentizität zu erneuern, indem sie uns wieder mit unserem inneren Selbst in Kontakt bringen; und Kunstwerke zu erschaffen, die uns analog zu Rilke dazu herausfordern, unser Leben zu verändern. Künstler unterstützen unsere Weiterentwicklung. In einer von Baha'i-Lehren inspirierten Welt werden die Künstler im Mittelpunkt der Gesellschaft stehen. Sie werden sich frei und fruchtbar mit den Menschen austauschen, denen sie mit ihrer Kunst dienen. Sie werden Stärke und Inspiration ebenso uneingeschränkt geben wie nehmen. Ich hoffe darauf, dass wir alle die Versöhnung zwischen Künstlern und ihrer Welt anführen. (...). Ich ermuntere Euch: Seid dabei! Heißt sie willkommen! Bringt Schokolade mit!'“
*1 Aus einer Pilgernotiz, Übersetzung der Redaktion
Das „Heimkommen“ der Künstler steht bevor. Es ist an der Zeit, dass die Weltgemeinschaft sich der Macht der Künste bewusst wird. Was kann sich wohl erst entwickeln, sobald wir diese mächtige Quelle für Kreativität, Heilung, Gemeinschaftsbildung, Fortschritt und Einheit voll ausschöpfen?
Dr. Anne Gordon Perry hat in Ästhetik promoviert und lehrt am Kunstinstitut in Dallas/Texas (USA).
Dieser Artikel erschien im Original auf bahaiteachings.org und wurde von der Redaktion inhaltlich geringfügig modifiziert.
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