Die Baha'i-Lehren fordern dazu auf, den „wahren Wert der Künstler und Kunsthandwerker“ zu würdigen, „denn sie bringen die Belange der Menschheit voran.“ (in: Textzusammenstellung zu den Künsten)
Bei dieser Aussage Baha'u'llahs, des Stifters der Baha'i-Religion, stelle ich mir die Frage, wie wohl Künstler und Kunsthandwerker die Sache der Menschheit voranbringen können? Und was bedeutet das überhaupt?
Obwohl ich als Baha'i aufwuchs und als Künstlerin viel Zeit mit dem Pinsel verbringe, finde ich die Aussagen der Baha'i-Schriften über die Künste verblüffend. Heutzutage scheint die Kunst in der Gesellschaft meist als unterhaltsamer Zeitvertreib, als wenig empfehlenswerter und nicht lukrativer Beruf oder bestenfalls als Massenunterhaltung oder elitärer Luxus angesehen zu werden. Die Baha'i-Lehren bieten uns dagegen eine ganz andere Sichtweise:
Jeder, ob reich oder arm, sollte ein Gewerbe, eine Kunst oder einen erlernten Beruf ausüben, und damit muss er der Menschheit dienen. Ein solcher Dienst wird als höchste Form der Anbetung angenommen.
Eine Malerin fragte: „Ist Kunst eine achtbare Beschäftigung?“ Abdu'l-Baha wandte sich ihr ... zu und sagte: „Kunst ist Anbetung.“
Nochmal - was soll das bedeuten? Kunst als Form der Anbetung?
Dieser Frage bin ich mit meinem Publikum während einer Wanderausstellung meiner Gemälde in den USA nachgegangen. Der Titel des interaktiven Begleitvortrages lautete „Das Leben als spirituelle Reise“, wobei ich mich auf das mystische Werk „Die Sieben Täler“ von Baha'u'llah bezog.
Als Baha'i gehen wir davon aus, dass Gott, der Schöpfer des Universums, den Menschen mit der Fähigkeit zum Erschaffen ausgestattet hat. Somit können wir unser Gefühl spiritueller Verbundenheit stärken, indem wir Neues schöpfen. Das könnte erklären, weshalb Kreativität solche Freude erzeugt, sowohl in der Person, die ein Werk erschafft, als auch in der, die es aufnimmt.
Während des Schaffensprozesses können wir viele spirituelle Einsichten gewinnen. Ein Schauspieler könnte beispielsweise Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit, gut zuzuhören entwickeln. Ein großartiger Tänzer meistert Disziplin und Bewegung. Ich selbst muss mich beim Malen oft der Loslösung stellen – also der Herausforderung, einschränkende Erwartungen an das Bild loszulassen und ihm zu erlauben, durch Überschreiten meiner eigenen Grenzen besser zu werden. Das lehrt mich auch die nötige Ausdauer, die ich brauche, um innere Hindernisse wie Angst oder Selbstzweifel zu überwinden.
In vielerlei Hinsicht trainiert das Erschaffen von Kunst fortlaufend die Fähigkeit, in Lebensproblemen Weisheit zu erkennen. Jedes kreative Projekt bedarf eines gewissen Maßes an Chaos, damit etwas Neues entstehen kann. Wir müssen lernen, dieser Reise zu vertrauen. Das gehört zum kreativen Prozess.
Oft denke ich an das Sandkorn, das eine Auster dazu bringt, eine Perle zu erschaffen. Manchmal bringen die ganz besonders herausfordernden Kunstprojekte die allerschönsten Werke hervor. Bei meiner Arbeit nenne ich schwierige Bilder meine „Problemkinder“. Sobald ich erkenne, womit ich es zu tun habe, nämlich mit einem „Problemkind“, wandelt sich mein Perspektive von Frustration zu Liebe. Aus Erfahrung weiß ich, dass solche Gemälde sich oft zu meinen besten Arbeiten entwickeln.
Wie oben gesehen, bezeichnen die Baha'i-Schriften Kunst als eine Form des Gebetes. Außerdem besagen sie, dass private Gebete auch andere erreichen:
Wer zurückgezogen in seiner Kammer die von Gott offenbarten Verse spricht, wird erfahren, wie die Engel des Allmächtigen den Duft der Worte, die sein Mund ausspricht, überallhin verbreiten und das Herz jedes rechtschaffenen Menschen höher schlagen lassen.
Diese beiden Aspekte, einerseits Kunst als Gebet, andererseits die Wirkung meines privaten Gebetes auf andere, zeichnen zusammen ein spannendes Bild der Wirkung kreativen Schaffens auf die Welt.
Das Phänomen, dass mein Gebet „das Herz jedes rechtschaffenen Menschen höher schlagen lassen“ kann – wie sich das wohl verstärken ließe, wenn durch Kunst als Andachtsform etwas Greifbares erschaffen wird? Welche Kraft könnte ein fertiges Kunstwerk dabei entfalten, die Herzen der Menschen zu verwandeln?
In jedes fertige Kunstwerk ist Lebenszeit geflossen - Energie, Liebe, Aufmerksamkeit und oft Opfer. Je nach Kunstform mag es auch buchstäblich Schweiß, Verletzlichkeit beispielsweise durch Lampenfieber und den Mut beinhalten, die tiefsten Gefühle des Künstlers zu entblößen - alles zur Erbauung anderer.
Die meisten von uns wurden schon einmal völlig unerwartet von einem Kunstwerk berührt oder bewegt, sei es von einem Lied, einem Bild, einer Geschichte, einem Film oder einer Aufführung. Die Autorin Alice Walker sagte einmal: „Wir müssen ihren heiligen Zweck ehren. Wir müssen der Kunst erlauben, uns zu helfen.“ (Alice Walker, The Same River Twice, 1996)
Wie können wir als Einzelne der Kunst erlauben, uns zu helfen? Wie wäre es, wenn wir uns der Kunst mit der bewussten Absicht nähern, unser Leben von ihr spirituell bereichern zu lassen? Wir könnten schlicht einmal etwas kunsthandwerklich Gefertigtes der Fabrikware vorziehen oder uns regelmäßig Zeit für künstlerisches Schaffen nehmen oder die Kunst eines anderen genießen. Noch gezielter können wir ein besonderes Gemälde oder Musik für unsere meditative Vertiefung nutzen.
Diese wenigen Ideen stehen beispielhaft für das Gebetspotenzial, das in der Kunst steckt und mit der sie uns helfen kann. Was meinst du? Welche Erfahrungen hast du mit dem Erleben oder Erschaffen von Kunst gemacht?
Ein weiterer Teil dieser Artikelserie, der hier bereits am 15. Okt. 2021 veröffentlicht wurde, führt diese Gedanken weiter und bringt einige Beispiele dafür, wie Kunst im Zusammenspiel mit dem mystischen Werk „Die Sieben Täler“ von Baha'u'llah uns bereichern kann: Wie mystische Baha’i-Schriften kreative Spiritualität freisetzen können
Jacqueline Claire geht es darum, die Welt zu einem liebenswürdigeren, wahrhaftigeren und schönen Ort zu machen und jeden Tag zu entdecken, was es bedeutet, Baha’i zu sein. Als die Welt bereisende Künstlerin und Geschichtenerzählerin ist der derzeitige Ort ihres Wirkens ihre Heimatstadt San Antonio in Texas, USA. Ihre Webseite https://www.jacquelineclaireart.com/ verschafft einen Einblick in ihre Arbeit.
Dieser Artikel erschien im Original auf BahaiTeachings.org
Bilder von Jacqueline Claire