Mystik ist oft ein verwirrender Begriff. Für viele Menschen ruft das Wort Vorstellungen von Magie und Phantasie hervor. Dabei geht es meistens bei der Mystik darum, die ultimative Wahrheit im Leben zu erfahren. Es gab Mystiker aus vielen verschiedenen Religionen. Einige haben den Begriff „Gott“ verwendet, um die ultimative Realität zu bezeichnen, während andere unterschiedliche Begriffe wie das Absolute, Brahman, Nirwana oder das Tao verwendet haben. Aber was jeder Mystik zugrunde zu liegen scheint, ist die Überwindung der alltäglichen Erfahrung und das Erreichen eines höheren Zustands des Seins (siehe hierzu auch den Beitrag Die Zweiheit und die Einheit).
Gleich zu Beginn sei erwähnt, dass ich sicherlich kein Mystiker bin. Im besten Fall bin ich ein mystischer Aspirant, ein Möchtegern-Mystiker. Meine Untersuchungen zu diesem Thema basieren nicht auf meinen eigenen persönlichen Erfahrungen; es sind meine Überlegungen zu den Baha'i-Schriften, die ich in die Praxis umzusetzen strebe. Daher möchte ich meine Gedanken über die Rolle der Mystik im Baha'i-Glauben teilen.
Zunächst könnten Menschen annehmen, dass es im Baha'i-Glauben wenig Platz für Mystik gibt, weil er einen sehr starken Schwerpunkt auf das Engagement in der Welt und den Dienst an anderen legt, ohne dabei wie Mönche oder Eremiten in Abgeschiedenheit zu leben. Obwohl es wichtig ist, sich Zeit zu nehmen, um allein mit Gott zu kommunizieren, sollten Baha'i auch viel Zeit in der Welt verbringen. Dies könnte den Anschein erwecken, dass es keine jenseitige Dimension des Baha'i-Glaubens gibt. Aber ich glaube nicht, dass das der Fall ist. Nicht nur ist Mystik ein Teil der Baha'i-Offenbarung; sie steht sogar in ihrem Zentrum.
Nach den Baha'i-Schriften ist „der Kern des religiösen Glaubens dieses mystische Gefühl, das den Menschen mit Gott vereint.“ (Shoghi Effendi, Directives of the Guardian, nicht überprüfte Übersetzung). Dies zeigt eindeutig, dass Mystik nicht nur ein Teil des Baha'i-Glaubens ist, sondern dass sie tatsächlich in ihrem Mittelpunkt steht. Nicht nur das, sie ist das Wesen der Religion selbst. Nach meiner Meinung ist es wichtig zu bedenken, dass es zwar verschiedene Religionen in der Welt gibt, aber Baha'u'llah erklärt, dass eigentlich nur eine Religion existiert: „die urewige Religion Gottes“. Baha'u'llah und sein Vorläufer, der Bab, lehrten beide das Konzept der fortschreitenden Offenbarung, wonach sich Gott im Laufe der Geschichte durch alle seine Offenbarer schrittweise verkündet. Das bedeutet aber auch, dass es im Grunde nur eine Religion gibt, weil jeder Offenbarer im Wesentlichen die gleichen geistigen Wahrheiten desselben Gottes verkündet. Und im Kern dieser einen Religion steht die mystische Verbindung zwischen dem einzelnen Gläubigen und Gott.
Was ist also das Besondere am Baha'i-Ansatz in der Mystik? Vielleicht sind zwei der bedeutendsten Aspekte die Vorstellung von „Vereinigung mit Gott“ und die Betonung des Dienstes. In vielen Formen der Mystik auf der ganzen Welt haben im Laufe der Geschichte zahlreiche Mystiker behauptet, eine vollständige Vereinigung mit Gott erreicht zu haben. Ihrer Meinung nach verschmolz ihr individuelles Bewusstsein vollständig mit Gott – sie wurden zu Gott. Nach dem, was ich gelesen habe, erklärte Baha'u'llah, dass Gott unbegreiflich und jenseits der Reichweite des menschlichen Verstehens ist:
Unermesslich erhaben ist Er über die Anstrengungen des Menschengeistes, Sein Wesen zu erfassen, oder der menschlichen Zunge, Sein Geheimnis zu beschreiben. Kein Band unmittelbaren Umgangs kann Ihn jemals an die Dinge binden, die Er erschaffen hat, noch können die dunkelsten, verhülltesten Andeutungen Seiner Geschöpfe Seinem Wesen gerecht werden. Durch Seinen die ganze Welt durchdringenden Willen hat Er alles Erschaffene ins Dasein gerufen. Er ist und Er war immer in der altehrwürdigen Ewigkeit Seines erhabenen, unteilbaren Wesens verhüllt und wird ewig in Seiner unerreichbaren Majestät und Herrlichkeit verborgen bleiben.
Baha'u'llah, Ährenlese
Das bedeutet, dass wir – egal wie weit wir gelangen – niemals das Wesen Gottes erreichen können. Selbst die Offenbarer können niemals sein Wesen erreichen, also wie könnte es jemand anderes? Baha'u'llah erklärt, dass die Vereinigung mit Gott im Wesentlichen die Anerkennung des Offenbarers und Gehorsam gegenüber seinem Gesetz bedeutet, denn die Offenbarer sind die einzigen direkten Kanäle zu Gott.
Das hindert uns aber nicht daran, trotzdem einige der spirituellen Eingebungen erfahren zu können, die andere Mystiker erlebt haben. Indem wir den Offenbarer anerkennen, der die vollständige Verkörperung aller Vollkommenheit Gottes ist, sind wir in der Lage, diese Qualitäten wahrzunehmen, in uns zu entwickeln und sie so in uns selbst, in anderen und in der Welt um uns herum wahrzunehmen. Gottes geistiges Licht erscheint in der gesamten Schöpfung, und indem der geistig Suchende dieses im Offenbarer erfährt, kann er es überall erkennen:
Auf dieser Stufe zerreißt er die Schleier der Vielfältigkeit und fliegt aus der Welt der Leidenschaften empor zum Himmel der Einzigkeit … Alles erblickt er mit dem Auge der Einheit und erkennt, dass die schimmernden Strahlen der Göttlichen Sonne alles, was ist, vom Aufgangsort der Wirklichkeit her gleicherweise bescheinen, und dass das Licht der Einzigkeit alle Geschöpfe erleuchtet.
Baha'u'llah, Sieben Täler
Der andere wichtige Aspekt der Mystik im Baha'i-Glauben ist die Betonung des Handelns. Gott hat das ganze Universum für unser geistiges Training geschaffen. Obwohl es im Vergleich zu den geistigen Welten Gottes nur ein Schatten ist, ist es keine vollständige Illusion. Das bedeutet für mich, dass wir die Dinge der Welt nicht meiden sollten. Wir sollten uns in die Welt einbringen, aber mit geistiger Wahrnehmung. Wir sollten erkennen, dass die Welt im Kern geistig ist.
Eine wichtige Aufgabe, die wir im Leben haben, ist es, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Baha'u'llah sagt: „Der Mensch wurde erschaffen, die Welt zu verbessern.“ (Baha'u'llah, Das Tabernakel der Einheit). Gott hat die Welt nicht in ihrer endgültigen Form erschaffen. Er hat uns einen Teil dieser schöpferischen Aufgabe übertragen, um uns auf die kommende Welt vorzubereiten, in die unsere Seelen gehen, wenn wir sterben. Indem wir anderen helfen, uns um Tiere kümmern und den Planeten schützen, helfen wir sowohl beim Aufbau des Reiches Gottes auf Erden als auch bei der Entwicklung unserer eigenen Seelen für die nächste Welt. Dabei können wir auch die geistigen Gnadengaben und Wunder Gottes erfahren.
Meiner Meinung nach ist es wichtig sich daran zu erinnern, dass bei unserem Einsatz für die Welt auch ein tiefes Gefühl der Hingabe vorhanden sein muss. Wenn wir uns nur darauf konzentrieren, Dinge in der Welt zu tun, dienen wir Gott nicht wirklich, weil unsere Bemühungen nicht auf ihn gerichtet sind. Baha'u'llah sagt über den Menschen: „Er muss sich um Gottes willen dem Dienst an seinen Brüdern widmen.“ (ibid) Um dies zu gewährleisten, muss der Dienst von Gebet, Lesen der Heiligen Schriften und Meditation begleitet werden. Jeden Morgen und Abend müssen wir uns wirklich tief mit unserer Verbindung zu Gott befassen, damit unsere „Taten tagtäglich wundervolle Gebete seien“. (Abdu'l-Baha, Ansprachen in Paris)
Wenn wir dies tun, können wir in dem endgültigen mystischen Zustand leben, einem Gebetszustand. Dies ist der Zustand, in dem Abdu'l-Baha lebte. Er betete nicht nur, wenn er mit geschlossenen Augen saß. Jede Handlung von ihm war ein Gebet, jedes Wort, das er sprach, jede Geste, die er machte. Aus diesem Grund wurde von ihm gesagt: „Abdu'l-Baha wird sicherlich den Osten und den Westen vereinen, denn Er geht den mystischen Pfad mit praktischen Füßen.“ (Baha'i World News Service)
Alles in allem können wir sehen, dass die Mystik nicht nur eine Dimension des Baha'i-Glaubens ist, sondern ein integraler und unverzichtbarer Bestandteil, um den sich alles andere dreht. In den Baha'i-Schriften heißt es:
Der Baha'i-Glaube ist wie alle anderen göttlichen Religionen im Wesentlichen mystischer Natur. Sein Hauptziel ist die Entwicklung des Individuums und der Gesellschaft durch den Erwerb spiritueller Tugenden und Kräfte. Es ist die Seele des Menschen, die zuerst genährt werden muss, und das Gebet versorgt am besten mit dieser geistigen Nahrung.
Shoghi Effendi, Directives of the Guardian (nicht überprüfte Übersetzung)
Dies zeigt, wie wichtig unsere mystische Verbindung zu unserem Schöpfer ist: Sie belebt nicht nur unser eigenes inneres Leben, sondern auch unsere Verbindung zu anderen und zum Planeten selbst.
Peter Gyulay ist leidenschaftlich engagiert für nachhaltiges Leben und die tieferen Aspekte des Lebens. Er hat einen Bachelor of Arts (mit Auszeichnung) in Philosophie sowie einen Master of Education und arbeitet in den Bereichen Bildung und philosophische Beratung. Er ist der Autor von "Walking the Mystical Path with Practical Feet: The Bahai Approach to Spiritual Transformation" und anderen Büchern und Artikeln. Mehr von Peter findet ihr hier: https://www.thinktalktransform.com/ und https://www.petergexpressions.com/
Dieser Artikel erschien im Original auf bahaiblog.net und wurde von der Redaktion leicht editiert.
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