Klimakrise, Pandemie, Krieg, Hungersnot und jetzt auch noch die Aussicht auf weltweite Finanzkrisen – ich werde das Bild nicht los, dass wir dabei sind, immer tiefer in die Schattenzonen der sogenannten „Moderne“ einzutauchen, die durch Industrialisierung, Aufklärung und Globalisierung seit dem 18. Jahrhundert die Welt von Grund auf neu gestaltet hat – zum Positiven, hat man lange geglaubt.
Nun erhebt sich aber immer lauter die Frage, ob die Menschheit nicht längst an der Grenze der Belastbarkeit der Moderne angekommen ist. Oder hat sie diese bereits überschritten? Warum bedurfte es noch eines weiteren Krieges in Europa, um zu verstehen: Kein weiter so?!
Die wichtigste Frage erscheint mir jedoch, warum wir kaum darüber nachdenken, welche Kurskorrektur die globale Welt derzeit am dringendsten benötigt, um über diese Krisen hinwegzukommen. Zugegeben: Es ist unwahrscheinlich, dass auch nur eine dieser globalen Krisen für sich allein in nächster Zeit lösbar sein wird. Jede von ihnen hat zwar ihre eigene Erklärungswelt, aber in ihren Auswirkungen sind längst alle vielfach miteinander verwickelt.
So etwa die Klimakrise, die mit ihren naturwissenschaftlichen Modellen, belegt durch eine zunehmende Fülle an Messdaten ab Beginn der Industrialisierung, nachvollziehbar ist und sich daher nicht für faule politische Kompromisse eignet. Sie hat ein gewaltiges Potenzial, sich schwer überschaubar auf Hunger, soziale Verwerfungen und sogar Kriege auszuwirken, die selbst wiederum die angestrebte Energiewende unmöglich machen können. Oder die Corona-Pandemie – sie erscheint uns immer noch in wesentlichen Aspekten rätselhaft, obwohl wir bereits vieles über sie gelernt haben. Aber auch sie ist kein eigenständiges Phänomen, sondern beeinflusst alle erdenklichen Lebensbereiche, sei es die Wirtschaft oder die Bildung oder sogar die Geburtenrate.
Rede ich mit Freunden oder Bekannten über den Angriffskrieg gegen die Ukraine, drängen sich mir ganz andere Fragen auf: Kann ich diesen verwerflichen Krieg überhaupt begreifen, ohne die weltpolitischen Veränderungen des vergangenen Jahrhunderts und die derzeitigen wirtschaftlichen Interessen der Beteiligten mit ihren Auswirkungen auf Ernährung oder Klima im Blick zu haben? Kann ich den Experten vertrauen, die derzeit nur militärische Lösungen mit „mehr Waffen“ vorsehen, wobei die Welt in Einflusszonen oder gar in Gut oder Böse aufgespalten wird? Die Anzeichen mehren sich, dass dieser Krieg – ähnlich dem katastrophalen Krieg im Jemen – zum ideologischen Stellvertreterkrieg von unvorhersehbarer Dauer werden könnte.
Unstrittig ist: Während Hunger und Armut auf der Welt weiter wachsen, wächst der Reichtum der Superreichen noch schneller. Die Entwicklungshilfeorganisation Oxfam hat jüngst ermittelt, dass der Gesamtbesitz der Milliardäre – weltweit fast 3000 – allein in den letzten beiden Jahren stärker zunahm, als in den zwei Jahrzehnten davor. Indessen leben 860 Millionen Menschen von weniger als 1,90 Dollar pro Tag und die durch den Klimawandel eingeläutete, nicht mehr nur lokal sondern global drohende Hungerkatastrophe wird durch kriegsbedingte Weizenlieferschwierigkeiten und andere Verteilungsprobleme weiter verschärft.
Interessant finde ich, dass jetzt wieder größere Teile der Gesellschaft unsere Zukunft grundlegend hinterfragen. Hängt das Wiedererwachen des zeitweise eingeschlafenen Bewusstseins für die überall lauernden Gefahren mit dem Zusammentreffen mehrerer globaler Krisen zusammen, deren Auswirkungen wir täglich spüren? Oder damit, dass diese Krisen offensichtlich miteinander verflochten sind und alarmierende Gemeinsamkeiten haben?
Rückblick: Die historische Epoche der Moderne begann durchaus vielversprechend. Die Erwartung der europäischen Aufklärung war, mit der Macht der Vernunft und Wissenschaften erstarrte Traditionen zu überwinden und ein Zeitalter des Fortschritts und Lichts herbeizuführen. Man erwartete, dadurch die menschliche Arbeit zu erleichtern, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, allgemeinen Wohlstand zu ermöglichen und dabei die Menschenrechte etablieren zu können.
Mit den industriellen Neuerungen des 19. Jahrhunderts nahm die umfassende Eroberung der Welt ihren Lauf, einhergehend mit der Ausbeutung von Menschen und Rohstoffen in den Kolonien der damaligen Kolonialmächte. Aber nach Ende des Zweiten Weltkriegs boten sich neue Chancen für die Zukunft: die weltweite Anerkennung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die Unabhängigkeit von Staaten und ehemaligen Kolonien und ein globales wirtschaftliches Wachstum.
Diese eigentlich positive Entwicklung warf bald Schatten und der Wettstreit von Schatten und Licht nahm Gestalt an. Der „Club of Rome“, ein 1968 gegründeter Expertenzusammenschluss, wies im März 1972 in seinem aufsehenerregenden Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ die Bedrohung der Welt durch einen allgemeinen Zusammenbruch bis spätestens zum Jahr 2100 nach, sofern die Wirtschaft weiterhin ausschließlich wachstumsorientiert arbeite. Der Fokus lag dabei auf dem Anstieg der Weltbevölkerung, dem industriellen Wachstum, der Erschöpfung der Rohstoffe und der bereits unübersehbaren weltweiten Umweltverschmutzung.
Die Warnungen des Club of Rome schockierten viele, gerade auch bei der ersten Internationalen Umweltkonferenz in Stockholm, die nur drei Monate später im Juni 1972 stattfand. Aber weder der Bericht des „Club of Rome“ noch die Stockholmer Umweltkonferenz zog nennenswerte Folgen nach sich. Sie ermutigten bestenfalls einige Wissenschaftler, die angesprochenen Problemfelder weiter zu erforschen. Die Zerstörung der globalen Artenvielfalt und die Vermüllung von Land und Ozeanen durch die Konsum- und Wachstumswirtschaft wurde in großem Maßstab fortgesetzt.
Bereits ein Jahrhundert zuvor – die Ära der wirtschaftlichen Welteroberung hatte gerade begonnen – warnte Baha'u'llah, der Stifter der Baha'i-Religion:
Ins Übermaß gesteigert, wird sich die Zivilisation als eine ebenso ergiebige Quelle des Übels erweisen, wie sie, in den Schranken der Mäßigung gehalten, eine Quelle des Guten war.
Baha'u'llah, in: Ährenlese
Waren die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels, die uns heute zunehmend Furcht einflößen, in den 1970er-Jahren unbekannt? Keineswegs! Nach einem Bericht des SPIEGEL (Viola Kiel, 20.10.2021) wurde erstaunlicherweise erst vor einem Jahrzehnt aufgedeckt, dass die großen Mineralölkonzerne bereits vor 1972 durch eigene wissenschaftliche Untersuchungen zuverlässige Prognosen über den Anstieg der Treibhausgase und die zu erwartende Temperaturerhöhung hatten: Bis zu 1,5 Grad in Richtung 2010, mit zu erwartenden katastrophalen Folgen. Öffentlich gemacht wurden die wohl geschäftsschädigenden Prognosen damals nicht.
Indessen lebte die in den 1980er-Jahren von den USA und Großbritannien ausgehende „neoliberale Wirtschaftsordnung“ davon, möglichst jegliche staatliche Regulierung aufzugeben und „Wachstum“ zur Zukunftsleitlinie zu erheben. Nach dem Ende des Kalten Kriegs wurden die 1990er-Jahre zur Bühne einer globalen Wachstumswirtschaft mit weitverzweigten Lieferketten und Märkten – gänzlich blind für die natürlichen Grenzen unseres Planeten.
Der UN-Generalsekretär António Guterres rief im Juni 2022 in Stockholm – in Erinnerung an die erste Umweltkonferenz 1972 – die Führer dieser Welt auf, endlich den Kurs zu ändern und den „sinnlosen und selbstmörderischen Krieg gegen die Natur zu beenden“. In meinen Augen eine erschütternd magere Bilanz nach einem halben Jahrhundert.
In diesem dunklen Schatten der Moderne wird aber auch neues Licht sichtbar, das die Hoffnung auf eine Kursänderung nährt. Zahllose Menschen jeden Alters erheben überall ihre Stimme und wenden sich an Entscheidungsträger in Sachen Klima, Umwelt, sozialer Gerechtigkeit oder Weltfrieden. Auch Nichtregierungs-Organisationen und die sogenannte „Zivilgesellschaft“ setzen sich mit großer Energie dafür ein, die Entscheidungen ihrer Regierungen zu beeinflussen.
Diese Entwicklung voraussehend, entwarf Baha'u'llah eine ganz neue Vision der Menschheit und ihrer Zukunft:
Das Wohlergehen der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit sind unerreichbar, sofern nicht und ehe nicht ihre Einheit fest begründet ist.
Baha'u'llah, in: Die Verkündigung Baha'u'llahs
Darin verbirgt sich das Bild einer Welt, in der unser Wohlergehen nur als gemeinsames Projekt für die ganze Menschheit möglich ist, die sich über alle Unterschiede und Grenzen hinweg als eine Familie versteht. Die Einigkeit dieser Menschheitsfamilie im Handeln, also bei der Lösung der anstehenden weltweiten Probleme, ist der Angelpunkt der Lehren Baha'u'llahs. In seinen Schriften erläutert er, dass und warum unsere Welt aus dem Gleichgewicht geraten ist. Das Gleichgewicht kann nur durch die Überwindung der althergebrachten Schranken und Vorurteile nationaler, ethnischer, sozialer oder religiöser Gegensätze wiederhergestellt werden, denn:
Die Erde ist nur ein Land, und alle Menschen sind seine Bürger.
Baha'u'llah in: Ährenlese
Für unseren Planeten bedeutet das, dass er der gemeinsame Öko-Raum aller Menschen ist, die sich diesen Raum teilen und ihn für nachfolgende Generationen schützen und erhalten müssen. Um die Zerstörung dieses Öko-Raums aufzuhalten, die durch jahrzehntelange Versäumnisse viel zu weit fortgeschritten ist, werden Appelle an umweltgerechtes Verhalten einzelner Bürger bei weitem nicht ausreichen, so wichtig individuelles Handeln auch ist. Selbst nationale und internationale Bemühungen, wie beispielsweise das Abhalten von Klimakonferenzen, sind zwar ermutigend – aber nur von nachhaltiger Bedeutung, wenn sie zu Taten, also tat-sächlich zu Verbesserungen führen. Es bedarf der Verbindlichkeit und allseitiger Vertrauenswürdigkeit.
Eine Schlussbemerkung zum Thema Frieden: Obwohl sich die Vereinten Nationen bei ihrer Gründung der Friedenssicherung verpflichtet hatten, investieren ihre Mitglieder heutzutage mehr in Aufrüstung als in den gemeinsamen Aufbau zukunftsweisender Strukturen. Ein für das Wohlergehen der Menschheit unerlässlicher weltweiter Frieden bleibt aber unerreichbar, solange es keine weltumspannende Friedens- und Sicherheitsordnung gibt. Der Blick in die Zukunft weist nach den Baha'i-Lehren den Weg in eine neue Moderne – die Ära einer geeinten Menschheit. Sie wird möglich durch ein umfassendes geistig-religiöses Bewusstsein der Einheit der ganzen menschlichen Familie.
Ingo Hofmann studierte Physik in München und war über drei Jahrzehnte im Raum Darmstadt-Frankfurt in der Forschung und als Hochschullehrer tätig. Er ist Vater von vier Kindern und lebt seit einigen Jahren in Potsdam, Brandenburg.
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