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AutorenbildPeter Amsler

Suche nach Wahrhaftigkeit in kriegerischen Zeiten

Ende Oktober 2023 machte ich wieder einmal die Fahrt von Berlin nach Sarajevo. Diesmal stand meine Reise in das von Krieg und Korruption gebeutelte Land im Widerhall eines anderen Krieges, der das Zeug zu einem weltweiten Flächenbrand hat. Die leidvollen Auseinandersetzungen in Israel und Palästina werden indes in Bosnien anders als in Deutschland wahrgenommen. Bin ich zu einem Gefangenen meiner eigenen Informationsblase geworden? Auf dem Rückweg machte ich mir Gedanken über meinen Medienkonsum. 


Die erste Lehre ist das unabhängige Forschen nach der Wahrheit

In der bosnischen Hauptstadt Sarajevo lebt meine Tochter mit ihrem Mann und Kind. Ich freute mich auf die lange Reise und das Unterwegssein mit dem Auto durch sieben verschiedene Länder. Vorbei an Dresden, durch Prag hindurch, und in der mährischen Stadt Brünn, der Geburtsstadt meines Vaters, würde ich die Reise für eine Nacht unterbrechen. Dann weiter nach Budapest und quer durch die ungarische Tiefebene nach Kroatien, die zwar langweilig zu durchfahren, aber gerade deswegen gefährlich ist, bevor die Landschaft in Bosnien wieder interessant und geradezu faszinierend wird. Eine abwechslungsreiche Reise durch das Herz Europas.


Sarajevo ist ein Hotspot der europäischen Geschichte: In diesem Landstrich herrschte über Jahrhunderte das Osmanische Reich und prägte Kultur und Religion bis heute. Dann folgte für eine kurze, aber einflussreiche Zeit die K.u.k.-Monarchie. Hier am Rande Europas begann der Erste Weltkrieg, im Zweiten kamen die deutschen Truppen und anschließend das Menschheitsexperiment des jugoslawischen Sozialismus mit einer eigenen, von der Sowjetunion unabhängigen Prägung. Als der Versuch scheiterte, zerbrach das alte Jugoslawien in bitteren Nachfolgekriegen. An deren Ende standen die heutigen Staaten Slowenien, Kroatien, Serbien, Montenegro, Nordmazedonien und der Bundesstaat Bosnien und Herzegowina mit einem bosnisch-kroatischen und einem serbischen Teilgebiet. Die Geschehnisse dieser Nachfolgekriege vergiften bis heute die Seelen der Volksgruppen, die seitdem getrennt voneinander leben.


Vier Jahre war Sarajevo von seinen Feinden belagert und wurde von den umliegenden Bergen von ihren ehemaligen Mitbürgern herab beschossen. Die Weltgemeinschaft sah tatenlos zu. Täter und Opfer sind leicht zu identifizieren, woraus die bosnisch-kroatisch-serbische Unfähigkeit, ein funktionierendes Staatsgebilde aufzubauen, bis heute im wahrsten Sinne des Wortes Kapital schlägt. Während einer langen Autofahrt lässt sich darüber trefflich sinnieren.


Die erste Lehre ist das unabhängige Forschen nach der Wahrheit; denn blinde Nachahmung des Vergangenen lässt den Geist verkümmern. Sobald aber jede Seele nach der Wahrheit forscht, ist die Gesellschaft befreit vom Dunkel des ständigen Wiederholens der Vergangenheit.

Nicht nur mein Skoda war voll beladen, mit neuen und alten Dingen für den Hausstand der jungen Familie und Spielsachen für das Enkelkind, auch ich war voll mit Eindrücken und Gedanken über die jüngste Zeit: über Krieg und Frieden in Europa und über das erst kürzlich hereingebrochene Ende einer mir bekannten Welt. Denn wenige Tage zuvor wurde an einem ganz anderen Ort die Menschheit durch ein Verbrechen aufgeschreckt, das anders als die Belagerung Sarajevos noch lange das Weltgeschehen bestimmen wird.


Am 7. Oktober 2023 überfielen Hamas-Kämpfer eine sich in Sicherheit wiegende Bevölkerung im Süden Israels. Es war das blutigste Massaker an Juden seit dem Holocaust. Laut Wikipedia wurden den Angaben Israels zufolge 1139 Menschen ermordet oder im Kampf getötet, darunter 695 israelische Zivilisten, davon 36 Minderjährige, 373 Mitglieder der israelischen Sicherheitskräfte und 71 Ausländer. Mehr als 5.400 Menschen wurden verletzt und 240 Geiseln genommen. Vor allem aber fand das Massaker in Israel selbst statt, also auf dem Hoheitsgebiet eines Landes, das so viel auf sich hält, wenn es um die Sicherheit und den Schutz seiner Bürger und Gäste geht. Schon wenige Tage danach organisierten Freunde und ich ein stilles Gebet am Brandenburger Tor, um vor allem den Opfern dieses Massakers, aber auch denen des sich abzeichnenden nachfolgenden Krieges zu gedenken.


Von diesem stillen, schlichten Gedenken im Herzen Berlins, das Menschen aus den unterschiedlichen Religionen zusammenbrachte, wollte ich meinem Schwiegersohn berichten. In Nordirland geboren lebt er seit fünf Jahren in Sarajevo, arbeitet dort als Englischlehrer und repräsentiert im landesweiten interreligiösen Dialog die kleine bosnische Baha'i-Gemeinde. Ich fand, Sarajevo wäre ein guter Ort, um mit ihm über Krieg und Frieden in den Wirrnissen einer leidenden Welt zu sprechen. In meinem Denken als Baha'i habe ich Fragen an diese Welt und ich hoffe, es sind die richtigen, also jene, die ehrlich gemeint sind und nicht rhetorischer Natur: Wie schaffen wir Gerechtigkeit, ohne die es keinen Frieden geben kann? Was ist ein rechtschaffenes Handeln, das zum Frieden führt? Welche Kompetenzen müssen wir dafür entwickeln? Wie wird sich dann unser Verständnis von Macht und Herrschaft gewandelt haben? Haben wir friedensschaffende Vorbilder in unserer Geschichte? Das sind nur einige Fragen, die mich bewegen.


Nun, um es kurz zu machen: Es kam alles anders. Mit nur einer Frage knockte mich mein Schwiegersohn aus. Ob ich wüsste, wie viele palästinensische Kinder und Jugendliche durch die israelische Politik allein in der Westbank ermordet, inhaftiert oder sonst wie geschädigt worden seien, fragte er mich. Von dem offenen Krieg auf dem Gebiet des Gaza-Streifens war da noch nicht die Rede. Mein Punkt hier ist nun gerade nicht das Gegenrechnen von Leid, das war auch nicht seiner. Unser Thema war, dass ich wenig Ahnung über die Hintergründe des Konflikts hatte. Ich konnte ihm auch keine Zahlen benennen, wusste nichts davon. 


Als mir dies klar wurde, veränderte sich schlagartig der Tenor unseres Gesprächs: Es ging nicht mehr um Krieg und Frieden in Bosnien oder in Israel und Palästina. Es ging um die Auseinandersetzungen in unserem eigenen Land – auch eine Art Krieg, der aber mit bewegten Bildern ausgetragen und über die Medien in unsere Wohnzimmer gebracht wird. Es ist ein Krieg um unsere Köpfe und noch mehr um unsere Herzen. Mit guten Absichten, und ohne es zu merken, wurde ich zum Kombattanten inmitten einer Auseinandersetzung, die ich nicht überblickte. Mit sanftem Zwang hatte ich mich mit Hilfe des von mir gewählten Medienkonsums auf die eine Hälfte der Wirklichkeit positioniert, während ich von der Existenz der anderen Seite noch nicht mal einen blassen Schimmer hatte.


Veredelt eure Zunge durch Wahrhaftigkeit, o Menschen und ziert eure Seele mit dem Schmuck der Ehrlichkeit. Hütet euch, o Menschen, dass ihr nicht gegen jemanden falsch seid. Seid Gottes Treuhänder unter Seinen Geschöpfen und die Wahrzeichen Seiner Großmut unter Seinem Volke. Wer seinen Gelüsten und verderbten Neigungen folgt, geht in die Irre und vergeudet seine Mühe. Er gehört wahrlich zu den Verlorenen.
Baha'u'llah, Ährenlese

Welchen Nachrichtenquellen kann ich künftig vertrauen? Sie sollten vielfältigen Ursprungs sein und Bilder und O-Töne aus allen Lagern liefern. Nicht nur Politiker, sondern vor allem die Menschen selbst sollten zu Wort kommen. Die Korrespondenten müssten daher mehr vor Ort sein und nicht nur aus irgendeinem Hotel von „da unten“ berichten. Das würde bedeuten, dass das Nachrichtengeschäft wieder mehr Ressourcen, Engagement und fachliche Kenntnisse erfordert. Der Ton der Berichterstattung sollte unaufgeregt sein und sprachlich und optisch deutlicher zwischen Bericht und Meinung trennen. Da es meine Verantwortung bleibt, moralisch zu urteilen, würde es genügen, die Lage so zu beschreiben, wie sie ist, ohne eine erzieherische Agenda zu verfolgen.

Die Berichterstattung hätte damit allein die Funktion, mir zu ermöglichen, meine Rolle als Protagonist für einen konstruktiven Wandel in meiner Umgebung oder Gesellschaft kompetent einzunehmen. Die Nachrichtenquellen, denen ich vertraue, sollten weiterhin ihre Eigentümer und Geldgeber und damit ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen offenlegen.


Die Welt würde dadurch nicht friedlicher, aber wir könnten unsere Gegenwart besser verstehen. Politische Handlungen würden schneller als sinnvoll oder unsinnig wahrgenommen werden. Und: Mit einem offenen und vorurteilsbewussten Blick auf unsere gegenwärtige Welt würden wir auch die Vergangenheit besser verstehen, was wiederum Auswirkungen auf unsere Gegenwart hätte. Das kleine und bis heute vom Bürgerkrieg gebeutelte Bosnien wäre zum Beispiel einen Schritt näher an gesellschaftlicher Heilung. Es könnte endlich, dreißig Jahre nach Kriegsende, in eine bessere Zukunft blicken. 


Wenn sich fünf Menschen zusammentun, um die Wahrheit zu erforschen, so müssen sie damit beginnen, dass sich jeder über seine einzelne besondere Lage hinwegsetzt und alle vorgefassten Meinungen fallen lässt. Um die Wahrheit zu finden, müssen wir von unseren Vorurteilen, unseren eigenen kleinlichen, alltäglichen Vorstellungen lassen; ein offener, empfänglicher Sinn ist nötig. Wenn unser Kelch vom ich erfüllt ist, so ist in ihm kein Baum mehr für das Wasser des Lebens. Die Tatsache, dass wir meinen, selber im Recht zu sein und jeden anderen für im Unrecht halten, ist das größte aller Hindernisse auf dem Weg zur Einheit, und Einheit ist nötig, wenn wir zur Wahrheit kommen wollen, denn die Wahrheit ist nur eine.
Abdu'l-Baha, Ansprachen in Paris

Es gibt sie, diese Journalisten und Medienhäuser, die sich den Maßstäben eines konstruktiven Journalismus verschrieben haben und Konflikte so tiefgreifend wie möglich ausleuchten möchten. Häufig sind es kleinere und unabhängige Medienprojekte, die oft ergänzend, mehr noch aber korrektiv zu den Großen berichten und gerade dadurch das Auflösen gesellschaftlicher Kontroversen ermöglichen. Medienmündigkeit bedeutet, sich auf die Suche nach diesen Fenstern zu machen, die eine klarere Sicht auf die Welt bieten.


All diese Gedanken kamen mir erst nach meinem Besuch in Sarajevo und nachdem ich mich auf die Suche gemacht habe, meine eigene, kleine Nachrichtenblase zu verlassen. Die Konsequenz daraus ist jedoch nicht, dass ich im aktuellen Krieg in Israel und Palästina eine bequeme Haltung der Neutralität eingenommen habe, weil „Krieg eben Krieg ist und so etwas passiert“. Nein, heute bin ich noch entschiedener dafür, alles für einen Frieden zu investieren, der Gerechtigkeit für beide beteiligten Seiten schafft. Und Wahrhaftigkeit ist die Grundlage dafür! Im Februar fahre ich wieder nach Sarajevo.


O Sohn des Geistes! Von allem das Meistgeliebte ist Mir die Gerechtigkeit. Wende dich nicht ab von ihr, wenn du nach Mir verlangst, und vergiss sie nicht, damit Ich dir vertrauen kann. Mit ihrer Hilfe sollst du mit eigenen Augen sehen, nicht mit denen anderer, und durch eigene Erkenntnis Wissen erlangen, nicht durch die deines Nächsten. Bedenke im Herzen, wie du sein solltest. Wahrlich, Gerechtigkeit ist Meine Gabe und das Zeichen Meiner Gnade. So halte sie dir vor Augen.
Baha'u'llah, Verborgene Worte

 

Peter Amsler ist gelernter Lehrer und derzeit als Erzieher und Verleger tätig. Er vertritt die Baha'i-Gemeinden in Berlin im religionsübergreifenden Gespräch. Mit seiner Familie lebt er in Berlin-Zehlendorf.


Foto von Jas Min auf Unsplash

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