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  • AutorenbildArmin Eschraghi

Udo Schaefer (1926-2019) – ein Wegbereiter in die Moderne

Liebe Leserinnen und Leser, mit diesem Artikel eröffnen wir eine neue Kategorie unter dem Schlagwort „Biographien“. Diese ist Persönlichkeiten gewidmet, die im Kontext der Baha'i-Religion und damit verbundenen gesellschaftlichen Themen besondere Beiträge geleistet haben.


Würdigung eines langen Lebenswerks für den Glauben


Stehen religiöse Überzeugung und rationales Denken zueinander im Gegensatz? Ist es religiösen Menschen möglich, insbesondere in Fragen von Moral und Ethik, ihre Werte zu vertreten, ohne sich dabei blind auf Überlieferung und Dogmen zu berufen? Der deutsche Baha'i Udo Schaefer (1926-2019) hat sich zeitlebens darum bemüht und mögliche Wege aufgezeigt.


Udo Schaefer

Im Sommer 1947 wurde Udo Schaefer erstmals auf den Baha'i-Glauben aufmerksam. Nach langen intensiven Gesprächen mit dem deutschen Baha'i Hermann Grossmann (1899-1968) schloss er sich einige Monate später der Gemeinde an. Wie er selbst später schrieb, war er zwar schnell vom „Geist des Glaubens bewegt“, hatte aber dennoch zunächst „den kritischen Dialog“ benötigt, um zu wissen, worauf er sich einlasse. Die Überzeugung, dass Religion nicht bloße Gefühlsduselei und Loyalität zum Glauben keinen blinden Gehorsam bedeute, sollte sein folgendes sieben Jahrzehnte währendes Wirken prägen. Für Udo Schaefer erschlossen sich die wahre Dimension und Tiefe des Glaubens neben echter Spiritualität durch Forschen, kritische Reflexion und vernünftige Argumente.


Ein zentrales Werk: „Desinformation als Methode“


Das wichtigste bleibende Zeugnis von Udo Schaefers Schaffen sind seine zahlreichen Schriften. Schon kurz nachdem er den Baha'i-Glauben angenommen hatte, wurde er durch seinen Schwager, einen evangelischen Theologen, mit kritischen Fragen konfrontiert. Um für solche Gespräche gewappnet zu sein, eignete er sich ein profundes Wissen über Schrift und Lehre des Baha'itums, aber auch über christliche Theologie, Philosophie und nicht zuletzt den Islam an. Er scheute nicht davor zurück, mit Theologen und Religionswissenschaftlern ins Gespräch zu treten und viele Missverständnisse und Fehldarstellungen über das damals noch fast völlig unbekannte Baha'itum zu korrigieren. So entstanden beispielsweise ein freundlicher Briefwechsel mit dem berühmten Religionswissenschaftler Gerhard Rosenkranz (1896-1983), aber auch ein regelrechter Schlagabtausch mit dem kirchlichen „Sektenbeauftragten“ Kurt Hutten (1901-1979).


Höhepunkt von Udo Schaefers diesbezüglichem Schaffen war das 1995 erschienene Werk „Desinformation als Methode“ (Georg Olms, Hildesheim), an dessen Entstehung er, neben Nicola Towfigh und Ulrich Gollmer, entscheidenden Anteil hatte. Darin wurden über lange Jahre unwidersprochen gebliebene Verzerrungen und Diffamierungen des Baha'i-Glaubens detailliert aufgearbeitet und widerlegt. Zugleich wurden viele bislang unbekannte historische und theologische Aspekte des Baha'itums erstmals systematisch einem interessierten und gebildeten Publikum bekannt gemacht. Eine Reihe von positiven Rezensionen erschien in Fachzeitschriften. Es handele „sich um einen hervorragenden Überblick über die Lehre und Grundsätze dieser Religion…Die Argumentation trifft genau ins Schwarze.“ schrieb der bekannte belgische Orientalist Christian Cannuyer. Und auch unter den Baha'i waren Freude und Zustimmung groß. Das höchste Gremium der Baha'i-Weltgemeinde(*) lobte das Buch als besondere Errungenschaft und veranlasste dessen Übersetzung ins Englische („Making the Crooked Straight“, George Ronald, Oxford, 2000).


Das Werk markierte einen Wendepunkt im Verhältnis zu kirchlichen Kreisen, wo man die Baha'i über lange Zeit skeptisch als „islamische Sekte“ abgetan hatte. Und es erhöhte das Ansehen der deutschen Baha'i-Gemeinde, so dass sie heute im Interreligiösen Dialog und in gesellschaftlichen Diskursen in einem Maße präsent und als konstruktive Stimme anerkannt ist, wie dies noch vor drei Jahrzehnten unvorstellbar schien.


Methodik und Weitblick


Udo Schaefers Schriften sind systematisch-analytisch und, obgleich sachlich und nüchtern formuliert, doch nicht „neutral“. Denn sie basieren auf der Prämisse des Glaubens an die göttliche Offenbarung. Zwar handelt es sich um theologische Abhandlungen, insofern sie auf dem Glauben an die Offenbarung Baha'u'llahs fußen. Doch folgte er darin wissenschaftlichen Maßstäben und argumentierte stets rational und auch für Außenstehende nachvollziehbar. Aus diesem Grund erreichten seine Werke ein Publikum, welches andere Formen gängiger, eher erbaulicher Gemeindeliteratur wenig attraktiv fand.


Schaefers Beiträge mögen manchen Leser aufgrund der Fachbegriffe und der zahlreichen Zitate und Fußnoten abschrecken. Er legte aber größten Wert auf ansprechende, nicht selten humorvolle, Formulierungen und achtete stets sorgfältig darauf, eine Sprache zu vermeiden, die nur Eingeweihten verständlich sein könnte. Denn seine Schriften entstanden überwiegend im Diskurs und richteten sich bewusst nicht allein an Mitgläubige.


Besonderen Weitblick bewies Udo Schaefer auch bei der Auswahl der Themen. Er hat zahlreiche grundlegende Studien zu verschiedenen Aspekten der Baha'i-Lehre verfasst, insbesondere zum Themenbereich „Ethik und Moral“. Dabei fußten seine Gedanken auf einem in der Schrift begründeten theologischen und philosophischen Fundament. Zugleich thematisierte er aber die konkrete Bedeutung für die Gesellschaft und die drängenden Fragen der Zeit.


„Der Baha'i in der modernen Welt“


Während seines Lebens ereigneten sich atemberaubender technischer Fortschritt und die digitale Revolution. Zugleich nahm er einen grundlegenden Wertewandel, wenn nicht gar -verfall, wahr. Der 1926 geborene Udo Schaefer erlebte den Nationalsozialismus, den Kalten Krieg, die radikale Linke in den siebziger und den islamistischen Terror seit den neunziger Jahren. Er sah, wie Ideologie und Verblendung immer wieder zu Hass, Gewalt und Zerstörung führen. Die Wurzel des Übels sah er in überkommenen, nicht länger zeitgemäßen Wertvorstellungen sowie im Fehlen einer globalen Ethik, die einer im Entstehen begriffenen neuen Welt gerecht werden könne.


Shoghi Effendi hatte bereits 1936 vor Auflösungserscheinungen der menschlichen Zivilisation und „Propheten des Verfalls“ gewarnt und diese zugleich als Begleiterscheinungen der Entstehung einer neuen Welt („Geburtswehen“) bezeichnet. Im Jahr 1979 erschien Udo Schaefers Buch „Der Bahai in der modernen Welt“ (Baha'i-Verlag, Hofheim, 2. erw. Aufl. 1981). Darin unterzog er den von Aktivisten eifrig und kompromisslos als „Fortschritt“ deklarierten Kulturwandel und dessen gedankliche Grundlagen und Prämissen einer gründlichen Kritik und stellte diesen die in der Offenbarung Baha'u'llahs verkündeten Prinzipien gegenüber.


Die im Buch genannten Statistiken und anschaulichen Fallbeispiele mögen mittlerweile zum Teil überholt sein. In der Analyse der Theorien, Anschauungen und Wertvorstellungen unserer heutigen Gesellschaft haben Schaefers Ausführungen jedoch auch knapp ein halbes Jahrhundert später nicht an Aktualität eingebüßt. Manche seiner Positionen mögen heute als „konservativ“ gelten. Udo Schaefer war aber stets der Meinung, dass es gerade in moralischen Fragen und in einer im Umbruch befindlichen Welt klarer Orientierung bedürfe, und diese fand er in den Schriften Baha'ull'ahs. Wer ihn kannte, weiß, dass er keineswegs aus der Zeit gefallen war, sondern stets bestens über das aktuelle Tagesgeschehen informiert war. Wenn seine Auffassungen bisweilen dem geltenden Zeitgeist widersprachen, so beruhte dies zum Teil auf biographischen Erfahrungen, vor allem aber auf inhaltlicher Auseinandersetzung und einer klaren analytischen Sicht sowie auf Rückbindung an die Heilige Schrift, nie jedoch auf Ressentiment oder bloßem Dogmatismus.


Obgleich Udo Schaefer engagiert und schlüssig argumentierte, lag es ihm fern, für seine Erkenntnisse Endgültigkeit oder besondere Autorität zu beanspruchen. Er verstand seine Ausführungen als Teil eines fortlaufenden Diskurses, in dessen Verlauf mit den Worten Abdu'l-Bahas der „Funke der Wahrheit durch den Zusammenprall verschiedener Meinungen“ erscheint (Abdu'l-Baha, Briefe und Botschaften). Seine Schriften sind insofern nicht als dogmatische Darstellungen, sondern als Nachdenken über Moral im Lichte der Offenbarung zu betrachten.


„Einführung in die Baha'i-Ethik“


Dies gilt in besonderem Maße für sein letztes großes Werk, in dem er der Frage nach dem geistigen und moralischen Fundament des menschlichen Zusammenlebens behandelt: Ursprünglich als Lexikon-Eintrag geplant, wurde seine „Einführung in die Bahai-Ethik“ schließlich in zwei Bänden auf insgesamt 1.200 Seiten veröffentlicht („Baha'i Ethics in Light of Scripture“, Bd.1 2007, Bd. 2 (1/2), Bd. 2 (2/2) ). Udo Schaefer betont zu Beginn seines Unterfangens, dass sich komplexe ethische und moralische Fragen mit ihren vielen Nuancen in kein enges System pressen lassen. Die Erkenntnis darüber, welche Werte in Zukunft die Grundlage einer globalisierten Welt bilden, werde erst im Verlauf eines langen Prozesses einsetzen, und zwar als Ergebnis vielfältiger Betrachtungen aus unterschiedlicher, nicht bloß frommer und religiöser, Perspektive.


Tatsächlich wirft der technische Fortschritt bereits viele noch vor wenigen Jahren unbekannte moralische Fragen auf, z.B. in Bezug auf Medizin-Ethik und Künstliche Intelligenz. Udo Schaefer war sich bewusst, dass es verfrüht und verfehlt wäre, diese schon jetzt abschließend beantworten zu wollen. Und so schreibt er nicht etwa aus der Sicht dessen, der vermeint, aufgrund seines Glaubens bereits alle Antworten zu kennen. Vielmehr führt das Wissen um die eigene Unzulänglichkeit dazu, nicht nur fremde, sondern auch eigene Überzeugungen immer wieder zu prüfen und in Frage zu stellen.


Eine solche Haltung der Offenheit und des Lernens steht im Gegensatz zu Phänomenen wie Fanatismus, Missionseifer und mangelnder Gesprächsbereitschaft, die nur allzu oft sowohl von religiöser, wie auch von nichtreligiöser Seite in gesellschaftlichen und politischen Debatten vorherrschen.


Obgleich Udo Schaefer selbst sein Werk als „ersten Schritt“ betrachtete, ist es ein Meilenstein. Er legt darin die Grundlagen einer in der Offenbarung Baha'ullahs begründeten Ethik dar und stellt dann Überlegungen an zu zentralen Normen, Konzepten und Tugenden. Dabei greift er nicht nur auf eine Fülle von Zitaten aus den Baha'i-Schriften zurück, sondern auch auf das philosophische Denken von der Antike bis zur Aufklärung. All dies gelingt ihm in einer Tiefe und Systematik, die in der weltweiten Baha'i-Literatur bislang einzigartig ist und die sicher vielen künftigen Autoren als Ausgangspunkt weiterführender Betrachtungen dienen wird. Eine deutsche Übersetzung des ersten Bandes wurde 2022 veröffentlicht („Studien zum Baha'itum – Ethische Aspekte der Schrift“, Peter Lang, Berlin), eine persische erscheint voraussichtlich 2025. Udo Schaefers frühere Bücher und Beiträge wurden u. a. ins Englische, Französische, Spanische, Arabische und nicht zuletzt ins Persische übersetzt.


Am 30. August 2019 schied Udo Schaefer aus diesem Leben. Bertolt Brecht werden die Worte zugeschrieben: „Man ist erst tot, wenn niemand mehr an einen denkt.“ An diesem Maßstab gemessen ist Udo Schaefer durch sein literarisches Schaffen unsterblich geworden.


Seine Werke sind als Pionierarbeiten historische Dokumente der frühen Entwicklung der deutschen Baha'i-Gemeinde und ihrer Literatur. Sie vermögen aber auch heute wichtige Anstöße und Argumente zu grundlegenden Fragen zu geben und als Orientierung im gesellschaftlichen Diskurs zu dienen. Da sie sich durch inhaltliche Tiefe, systematische Herangehensweise und klare Sprache auszeichnen und viele nach wie vor aktuelle, bisweilen auch heikle Themen mutig angehen, sprechen sie auch solche Menschen an, die traditionellen Formen von Religion gegenüber kritisch eingestellt sind und die, wie einst Udo Schaefer selbst, auch im Glauben eines kritischen Dialogs bedürfen.


All jenen, die die Wahrheit erforschen, gibt Abdu'l-Baha den folgenden Rat:

Die Wirklichkeit beziehungsweise die Wahrheit ist nur eine … Wenn sie sich auf die Wirklichkeit beziehen, werden sie einander zustimmen und einig sein, denn die Wirklichkeit ist unteilbar und nicht vielgestaltig. Daran kann man erkennen, dass für die Menschheit nichts von größerer Bedeutung ist, als die Erforschung der Wahrheit.

 

Armin Eschraghi hat in Frankfurt am Main Orientalistik, Islamwissenschaft, Philosophie und Vergleichende Religionswissenschaft studiert. Er ist Autor und Übersetzer zahlreicher Beiträge zu Geschichte und Heiligen Schriften der Baha'i.

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