Vor 40 Jahren war ich 22. Ungefähr gleichaltrig mit einigen der 10 Frauen, die damals im iranischen Schiras hingerichtet wurden, weil sie glaubten. Glaubten, dass alle Menschen gleichwertig sind, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Reichtum, Nationalität oder Religion. Glaubten, mit ihrem Einsatz für Kindererziehung oder Nachbarschaftshilfe etwas Gutes zu tun. Sie waren gläubige Baha'i, die jüngste von ihnen bei ihrer Festnahme erst 16 Jahre. Sie hätten ihrem Glauben abschwören und sich dadurch retten können. Aber sie wollten lieber sterben, als sich ihren Peinigern zu unterwerfen. Ihr Leiden erschütterte mich zutiefst, ebenso wie ihr Mut mich faszinierte! Aber ich fragte mich – war die Zeit überhaupt reif für so viel Idealismus?
Diese 10 Frauen waren nicht die ersten, die im Iran für ihre Überzeugung starben. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts war die persische Dichterin Qurrat al-'Ain öffentlich als Vertreterin der Babi-Religion ohne Schleier aufgetreten. Die Babi-Religion ging der Baha'i-Religion unmittelbar voraus und ist mit ihr untrennbar verbunden. Tahere, wie man die hochgerühmte Rednerin auch nannte, wurde 1852 wegen ihres Glaubens und ihres Kampfes für Frauenrechte hingerichtet und viele Frauen folgten ihr auf diesem Weg. Ihre letzten Worte an ihren Henker wurden überliefert:
„Du kannst mich jederzeit töten,
aber die Befreiung der Frauen kannst du nicht aufhalten.“
Hatte sich bis 1983 denn gar nichts verändert, als in Schiras die 10 Frauen gleichermaßen verfolgt wurden? Scheinbar schien die Zeit stehengeblieben, denn immer noch wurden Frauen im Iran auf's Empörendste und Grausamste unterdrückt ...
... und doch war etwas anders. Die Welt war eine andere geworden.
Mitte des 19. Jahrhunderts war die Ermordung Taheres im Westen noch weitgehend unbemerkt geblieben. Zwar schrieb der zeitgenössische englische Orientalist Edward Granville Browne über sie, einer breiten Öffentlichkeit blieb ihr Schicksal jedoch verborgen. Frauenrechte – ein Thema, für das sich damals nur wenige Eliten interessierten. Ein Thema für den kultivierten Gedankenaustausch in vornehmen Salons, unter gebildeten Damen, aufgeklärten Philosophen und fortschrittlichen Gelehrten, bei Tee und Kammermusik. Hie und da auch ein Thema für hitzige Diskussionen in Anarchistenkreisen oder unter den wenigen Aktivistinnen, die Wege gefunden hatten, der männlichen Bevormundung zu entkommen. Alles in allem aber noch kein Thema, das große Wellen schlug.
Doch Taheres letzte Worte erwiesen sich als wahr. Die Befreiung der Frauen konnte durch niemanden aufgehalten werden, auch nicht durch die grausamste Unterdrückung. Im Gegenteil.
Die Mitte des 19. Jahrhunderts war eine bemerkenswerte Zeit! Neue Gedanken und Ideen durchdrangen die Welt und begannen zu wachsen wie ein gut geführter Hefeteig. Der französische Dichter Gustave Aimard schrieb damals: „Es gibt etwas, das stärker ist als die rohe Gewalt der Bajonette: das ist eine Idee, deren Zeit gekommen ist und deren Stunde geschlagen hat.“ Sein Zeitgenosse Victor Hugo formulierte es so: „Man kann der Invasion von Armeen Widerstand leisten, aber keiner Invasion von Ideen.“
Die Menschheitsgeschichte weist große Zyklen auf, in denen sich Phasen großen kulturellen Aufschwungs mit Phasen des Niedergangs abwechselten. In Aufschwungzeiten lassen sich bestimmte Gedanken und Ideen einfach nicht mehr unterdrücken. Die Baha'i-Religion besagt, dass dahinter die Absicht des Schöpfers steckt, die Entwicklung der Menschheit immer weiter voranzubringen. Von einer Ära zur nächsten schickt Gott demnach immer wieder neue Boten, deren Lehren den Menschen entsprechend ihrer Fassungskraft weiterführende Impulse geben. Es ist wie in der Schule: Von Jahrgangsstufe zu Jahrgangsstufe lernen die Kinder immer mehr von immer neuen Lehrkräften. Nach christlicher Zeitrechnung war es Mitte des 19. Jahrhunderts wieder soweit. Baha'u'llah verkündete, der Bote Gottes für dieses Zeitalter zu sein und stiftete damit die Baha'i-Religion. Er schrieb:
Der Offenbarung jedes himmlischen Buches, ja jedes von Gott offenbarten Verses liegt die Absicht zugrunde, alle Menschen mit Rechtschaffenheit und Verstand zu begaben, damit Friede und Ruhe fest unter ihnen begründet seien. Was immer den Herzen der Menschen Zuversicht einflößt, was ihre Stufe erhöht oder ihre Zufriedenheit fördert, ist vor Gott annehmbar.
Baha'u'llah, Ährenlese
Der Hauptzweck, der den Glauben Gottes und Seine Religion beseelt, ist, das Wohl des Menschengeschlechts zu sichern, seine Einheit zu fördern und den Geist der Liebe und Verbundenheit unter den Menschen zu pflegen. Lasst sie nicht zur Quelle der Uneinigkeit und der Zwietracht, des Hasses und der Feindschaft werden.
Baha'u'llah, Ährenlese
Die Gleichwertigkeit aller Menschen und ihre Gleichberechtigung ist zentraler Bestandteil der Baha'i-Lehren. Für die Beziehung der Geschlechter untereinander bedeutet das:
Die Menschenwelt besitzt zwei Flügel, den männlichen und den weiblichen. Solange diese beiden Schwingen nicht gleich stark sind, wird der Vogel nicht fliegen.
Abdu'l-Bahá, zitiert in: Textzusammenstellung, Frieden
Die Entwicklung hin zur Gleichberechtigung ließ sich also nicht mehr aufhalten. Um 1850 herum gab es noch keine weltweiten Kampagnen, geschweige denn eine für Frauenrechte. Doch die Welt veränderte sich im Sauseschritt: Das Jahrzehnt von 1976 bis 1985 wurde von den Vereinten Nationen zur „UN-Dekade der Frau“ ausgerufen. Damit sollte nach dem „Jahr der Frau“ (1975) der Weltöffentlichkeit noch stärker bewusst gemacht werden: Frauenrechte sind grundlegender Bestandteil der allgemeinen Menschenrechte.
Als mich 1983 der Tod meiner Altersgenossinnen im Iran so tief erschütterte, habe ich nach Trost gesucht, um dieses grauenvolle Geschehen zu verkraften. Dabei habe ich mir ein Beispiel an den Frauen selbst genommen: Von ihnen wurde berichtet, dass sie ihre Gelassenheit dem Beten verdankten. Also betete ich viel und meditierte ...
... und schließlich entstand ein Bild vor meinem inneren Auge ... . Mir kam es so vor, als hätte Mitte des 19. Jahrhunderts ein Zug Fahrt aufgenommen, dessen Räder mehr Schwung bekamen, je mehr Menschen ihn bestiegen. Ein Zug, der auf viele Menschen eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausübte, die noch immer weiter wächst. Diese Anziehungskraft besteht aus geistigen Prinzipien, die in den Herzen der Menschen ihren Widerhall finden und sie inspirieren. Die Zeit war reif für diese neuen Gedanken und Ideen. Reif für Gleichwertigkeit. Für Liebe. Für Einheit.
Auf diesen Zug waren auch die 10 Frauen in Schiras aufgesprungen. Sie hatten dazu beitragen wollen, dass der Zug sein Ziel erreicht. Sie hatten sich nicht zwingen lassen, wieder abzuspringen. Viele, sehr viele sind ihnen seither gefolgt.
Heutzutage setzten sich im Iran Frauen und Männer gemeinsam für Frauenrechte ein. Und nicht nur dort und nicht nur für Frauenrechte. Immer mehr Menschen jeglicher Herkunft und jeglichen Hintergrundes engagieren sich für Freiheit, Gleichheit und Mitmenschlichkeit. Angesichts der vielen Gräuel und des unbeschreiblichen Leides überall entsteht häufig der Eindruck, diese Bemühungen verpufften ohne Erfolg. Doch verfolgt man die Fahrt des besagten Zuges durch die letzten rund 200 Jahre, wird deutlich, dass er dem Ziel schon ein gutes Stück näher gekommen ist:
Vor 200 Jahren war weder eine Gleichstellung aller Menschen vorstellbar, noch der Bedarf für weltumspannende Problemlösungen. Vor 200 Jahren verstanden sowieso viele sogenannte „aufgeklärte Denker“ unter „allen Menschen“ nur „alle Männer“. Bürgerrechte für buchstäblich ALLE Menschen – so weit reichte bei vielen die Vorstellungskraft noch nicht. Ebensowenig konnten sie sich vorstellen, dass es Probleme gäbe, die eine Nation nicht aus eigener Kraft und allein lösen könnte. Von Klimawandel, um nur eine unserer gegenwärtigen Herausforderungen zu nennen, hatte vor 200 Jahren noch niemand gehört ...
KLAR. Am Ziel ist der Zug noch nicht. Immer noch gibt es fürchterliche Missstände, unsägliches Leid, Grausamkeit und Unterdrückung. Immer noch werden auf dieser Welt Menschenrechte mit Füßen getreten. Aber das Bewusstsein hat sich verändert. Immer öfter werden Menschenrechtsverletzungen angeprangert – und das nicht nur an dem Ort, an dem sie geschehen. Mit einem Klick erfährt die ganze Welt davon. Und immer mehr Menschen empören sich darüber. Der Eindruck allgemeiner Gleichgültigkeit täuscht, wie sich glücklicherweise in Notzeiten immer wieder erweist.
Nach jenen Hinrichtungen 1983 in Schiras habe ich mich gefragt, ob die Zeit reif sei für so viel Idealismus. Heute sagt mein Herz dazu laut und deutlich: JA, die Zeit ist reif! In aller Welt gibt es Beweise dafür. Aktuell läuft anlässlich des 40. Jahrestages der 10 mutigen Frauen ihnen zu Ehren eine globale Kampagne (#OurStoryIsOne), mit der Menschen aus allen Himmelsrichtungen den Menschen im Iran die Hände reichen. Hand in Hand zum Wohle aller, für die Einheit aller Menschen ...
Das Wort Gottes ist eine Lampe, deren Licht der Satz ist: Ihr seid die Früchte eines Baumes und die Blätter eines Zweiges. ... So machtvoll ist das Licht der Einheit, dass es die ganze Erde erleuchten kann.
Baha'u'llah, Ährenlese
... denn EINHEIT ist der Schlüssel zur Überwindung so vieler aktueller Probleme! Wir sind alle miteinander verbunden, alle voneinander abhängig, gehören alle zu dem einen Organismus, der „Welt“ heißt. Wenn wir alle am gleichen Strang ziehen, können wir unseren Planeten in einen lebenswerten Ort für alle Wesen verwandeln. Es ist machbar. Denn die Zeit ist reif!
Caroline Schmidt ist ein Pseudonym. Die heutige Lektorin war zuvor im Gesundheitswesen tätig, ist verheiratet, hat erwachsene Kinder, mehrere Enkelkinder und lebt im deutschsprachigen Raum.
Photo von der Baha'i International Community